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112. Boston-Marathon am 21.04.2008
Der älteste Stadtmarathon der Welt - Langer Anlauf zum Heartbreak Hill
Es ist Sonntag, der 29. April 2007. Schwer atmend stehe ich, die Hände auf die Knie gestützt, hinter dem Zieleinlaufbanner auf der Glacischaussee. Der Hamburg-Marathon liegt im wahrsten Sinne des Wortes hinter mir. Ein Freudentränchen im Knopfloch registriere ich beglückt, daß es mir zum zweitenmal gelungen ist, meine persönliche „Schallmauer“ von 3:30 Std. zu unterbieten. Knapp genug mit 3:29:38 Std. Aber was soll’s - sub ist sub.
Wenig später dämmert mir, daß es mir damit um Haaresbreite gelungen ist, mich in meiner Altersklasse M45 für die Teilnahme am 112. Boston-Marathon zu qualifizieren. Hmmm. Reizvoll ist das ja. Aber es würde auch jede Menge Geld erfordern, selbst wenn man nur ein paar Tage veranschlagte. Erste vorsichtige Erkundigungen bei meiner Gattin ergeben keine Rundum-Ablehnung unter der Voraussetzung, daß die Oma in der Zeit unsere dreiköpfige jugendliche Rasselbande bändigt. Nach dem OK der Oma brechen alle Dämme und ich beginne zu planen. Die Absicht ist: Freitagfrüh hin und Mittwochnachmittag zurück (also wegen des Zeitunterschieds Donnerstagvormittag wieder zuhause).
Ein Blick auf die Internetseiten der einschlägigen Reiseanbieter zeigt schnell, daß man für zwei Personen schon einiges an Geld in die Hand nehmen muß. Und wenn man auf die Dienste eines Reiseveranstalters verzichtete? Ich nehme Kontakt zum Berliner Andreas Hiller (marathon-andi.de) auf, der mit seiner Freundin Leonie im vergangenen Jahr in Boston lief. Er meint, daß sie im Nachhinein in diesem Fall gut und gerne auf die Inanspruchnahme eines Reiseveranstalters hätten verzichten können. Kurze Wege, hervorragende öffentliche Verkehrsmittel und eine gute Organisation machten das Reisen auf eigene Faust zu einem kalkulierbaren Risiko. Und so entschließe ich mich, Mut zu zeigen, zumal der extrem schwache Dollar (ich tausche einen Handvorrat zum Kurs von 1 € = 1,54 $) die Entscheidung in finanzieller Hinsicht deutlich erleichtert.
Die Anmeldung auf der Veranstalterseite baa.org ist einfach und übersichtlich. Den Qualifikationsort kann man dabei zwecks Nachprüfung durch die Organisatoren über ein Drop Down-Menü angeben. Keine zwei Wochen später trifft per Post eine Confirmation Card ein, mit der meine Teilnahme offiziell bestätigt wird. Eine Sofort-E-Mail war unmittelbar nach der Anmeldung eingegangen.
Flüge sind günstig zu haben und auch ein Hotel ist via Internet und unter Zuhilfenahme eines lieben Kollegen in Reston, VA schnell gefunden. Sogar mit Continental Breakfast, was in den restlichen USA eher unüblich ist. Auch der Preis des Hotelzimmers ist für Bostoner Verhältnisse überschaubar, da in den USA – im Gegensatz zu uns - in der Regel ein Zimmerpreis unabhängig von der Belegung gilt.
Drei Wochen vor dem großen Ereignis kommt, ebenfalls per Post, ein umfangreicher Prospekt an, der, wenn man ein wenig Englisch spricht, keine organisatorischen Fragen offen läßt. Er enthält auch die „Number Pick-up card“, die zum Abholen der Startunterlagen berechtigt. Derart beruhigt, gehen wir an die Feinplanung und sind voller Vorfreude.
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Freitag, 18.04.2008
Nach einem problemlosen Flug ab Frankfurt inkl. eines Zwischenstops in Philadelphia (26°!), der die Flugkosten niedrig hielt, kommen wir gegen 17.30 Uhr in Boston, der Hauptstadt des Bundesstaates Massachusetts mit rund 600.000 Einwohnern, an. Ein Taxi bringt uns rasch zu unserem Hotel, das in Somerville, ca. 3 km nördlich der Stadtmitte, liegt. Ausgepackt ist schnell und die Müdigkeit hält sich erfreulicherweise noch in Grenzen. Die ungewohnte Reise hält den Adrenalinspiegel hoch und wir nutzen das gute Wetter – rund 17° Celsius bei eitel Sonnenschein – zu einer ausgiebigen Erkundung der unmittelbaren Umgebung nach den vielen Stunden des Sitzens. Für den Besuch der Marathonmesse, die heute zwischen 10 und 20 Uhr geöffnet hat, ist es uns zu spät geworden und wir verschieben das auf morgen.
Samstag, 19.04.2008
Der erste Programmpunkt am heutigen Samstag ist natürlich der Besuch der Marathonmesse im Hynes Convention Center, die ihre Pforten zwischen 9 und 18 Uhr (ebenso am Sonntag) geöffnet hat. Mit der U-Bahn, hier „T“ genannt, sind wir schnell vor Ort. In der Bahn spricht mich Steve, ein alter Haudegen und vielfacher Boston-Finisher an und gibt mir viele praktische Tips, die ich auch beherzigen werde. Er wird in diesem Jahr nicht mitlaufen, aber an Meile 21 nach mir Ausschau halten. Da bin ich aber gespannt, ob das etwas wird!
Zum Empfang meines Startpakets muß ich meine „Number Pick-up card“ und einen Lichtbildausweis vorlegen. Ich erhalte auch ein schönes langärmeliges Laufhemd, das im Preis mit inbegriffen ist. Die Organisatoren weisen stolz darauf hin, daß sie der erste „Major Marathon“ sind, der spezielle Damen- und Herrengrößen anbietet, also unterschiedliche Schnitte. Ob das so nötig ist? Beim Rundgang werde ich von einem Deutschen angesprochen. Schnell sind wir beim unvermeidlichen Thema und stellen sogleich belustigt fest, daß wir „Kollegen“ sind, die sich bisher nicht persönlich kannten. Nämlich m4y-Autoren! Klaus Sobirey wird auch über den Lauf berichten und wir sind gespannt, was wir an Unterschiedlichem zu Papier bringen werden.
Auf der Boylston Street sehen wir kurz den Staffelwettbewerben der Schüler zu. Es ist bedauerlich zu sehen, wie viele sehr dicke Kinder es gibt, die nicht in der Lage sind, 200 geschweige denn 400 m am Stück zu laufen. Wenn wir in Deutschland nicht aufpassen, werden wir diese Verhältnisse auch erleben (müssen).
Anschließend beginnt ein ausgiebiges „Sightseeing“. Die Stadt wurde 1630 von englischen Puritanern auf einer Halbinsel gegründet und erlangte Berühmtheit durch die sog. Boston Tea Party vom 16.09.1773, bei der Proteste gegen die Erhöhung der Teesteuer durch die Kolonialmacht Großbritannien den Unabhängigkeitskrieg auslöste.
Unbedingtes Muß ist der ca. vier Meilen lange Freedom Trail, Amerikas "Pfad der Freiheit", eine rote Pflasterspur, die zu sechzehn historischen Stätten in der Stadt führt. Beginnend am Stadtpark, dem Boston Common, dem ältesten öffentlichen Park der USA, führt er nach Charlestown; dabei werden alle wichtigen 16 Stätten dieser geschichtlichen Periode durchlaufen. Eine Station ist u. a. das Old State House, von dessen Balkon John Adams im Jahre 1776 die Unabhängigkeitserklärung verkündete. Diesen Pfad laufen wir tapfer komplett ab und sind froh, nach Messe und vielen Geh-km abends in der Falle liegen zu dürfen.
Sonntag, 20.04.2008
Am heutigen Tag fällt der sonst übliche Frühstückslauf, an dem wir gerne teilgenommen hätten, dem Olympia-Ausscheidungsrennen („Trials“) der US-Damen für Peking zum Opfer. Natürlich machen wir einen Abstecher dorthin. Der Wettkampf findet zuschauerfreundlich ab 8 Uhr auf einem mehrfach zu durchlaufenden Kurs entlang der beiden Ufer des Charles River in der Innenstadt und Cambridge statt.
Wir sind bei etwa der Halbzeit und am Ende live dabei und freuen uns an der tollen Stimmung. Deena Kastor gewinnt das Rennen überlegen und wird frenetisch gefeiert. Ihre Zeit von gut 2:30 Std. auf dem flachen Kurs ist m. E. nicht als überragend zu betrachten. Das tut der Stimmung aber keinerlei Abbruch und das Volk versinkt in einem Meer aus Stars and Stripes.
Im historischen City Hall Plaza findet zwischen 16.30 und 20 Uhr die obligatorische Nudelparty, die im Startgeld enthalten ist, statt. Für Kinder unter 12 Jahren ist die Teilnahme kostenlos, ein netter Service. Bedauerlicherweise kann ich diesen nicht nutzen, denn meine mir gesetzlich angetraute Gattin wird auf knapp über 12 Jahre geschätzt und fällt bei der Gesichtskontrolle durch. So muß ich halt 20 $ berappen, der Gegenwert ist aber OK: Verschiedene Nudelgerichte, Nudelsalat, Salat und Getränke, alles bis zum Abwinken. „Schwer“ beeindruckt verlassen wir die Arena.
Montag, 21.04.2008
Marathontag. Feiertag. Erinnert wird dabei jährlich an die ersten Gefechte des Unabhängigkeitskrieges. Ich vertraue darauf, daß auch meine heute zu erwartenden persönlichen Gefechte, nämlich die gegen den bekannten inneren Schweinehund, erfolgreich sein mögen.
Der Boston-Marathon ist zweifellos der traditionellste aller Marathonl¦ufe nach den Olympischen Spielen. Der erste Lauf fand am 19. April 1897, etwa ein Jahr nach dem Marathon bei den Olympischen Spielen 1896 in Griechenland, statt.
Beim ersten Lauf im Jahr 1897 waren 15 Athleten am Start. Mittlerweile ist die Teilnehmerzahl begrenzt, und man muss in einem maximal 18 Monate zurückliegenden Lauf eine vorgegebene Zeit unterschreiten. Die Altersklassen-spezifischen Qualifikationszeiten liegen für den Lauf des Jahres 2008 bei 3:10:59 für Männer bis zur Altersklasse M35, für Frauen der gleichen Altersklasse bei 3:40:59. Für ältere Sportler liegen sie höher (3:30:59 für meine AK M 45).
Ursprünglich war das Rennen Männern vorbehalten, erst 1966 nahm Roberta Gibb als erste Frau beim Boston-Marathon teil - inoffiziell und ohne Startnummer. 1967 nahm Katherine Switzer als erste Frau mit Startnummer teil - sie hatte sich als "K. Switzer" angemeldet und keinen Hinweis auf ihr Geschlecht gegeben. Während des Rennens versuchten Streckenposten vergeblich, sie mit Gewalt von der Strecke zu entfernen. Erst 1972 durften Frauen offiziell teilnehmen.
Die bekannteste Sportlerin aus deutscher Sicht, die am Boston-Marathon teilgenommen hat, ist Uta Pippig. Sie war die erste Frau, die den Lauf dreimal in Folge (1994, 1995, 1996) gewann. Bereits 1982 siegte Charlotte Teske aus Darmstadt. Bei den Männern war lediglich Paul de Bruyn 1932 siegreich. Herbert Steffny gewann 1996 in der Masterswertung (Läufer über 40 Jahre). Seit 2006 gehört der Boston-Marathon mit seinen inzwischen 20.000 Marathonläufern zu den World Marathon Majors.
Früh stehe ich um 5.00 Uhr auf. Wofür habe ich mir eigentlich Urlaub genommen? Elke darf liegen bleiben und muß zur Strafe alleine frühstücken, denn das Hotel bietet weder ein frühes Frühstück noch einen durchaus machbaren Shuttleservice an. Vernünftigerweise bleibt sie zunächst im Hotel, es macht keinen Sinn, sie mit nach Hopkinton zu nehmen. Erstens würde sie gar nicht mit den gelben Schulbussen mitgenommen werden und zweitens wäre das für sie wenig kurzweilig. Und zurückkommen muß sie auch irgendwie. Also vereinbaren wir, daß sie am Ziel auf mich wartet und wir uns anschließend in der Familiy Meeting Area treffen. Außerdem kommt unterwegs ja die berühmte Mädchenschule und da kann die eigene Frau nur störend wirken.
Die erste Welle wird zwischen 6.00 und 6.45 Uhr befördert, die zweite zwischen 06.45 und 7.30 Uhr. Alles klappt wie am Schnürchen, ca. 55 Minuten dauert dann die polizeibegleitete Fahrt zum Startbereich, wo wir uns die verbleibende Zeit im Athletendorf vertreiben können. Wer Lust hat, kann hier ein (zweites) Frühstück einnehmen: Kaffee, Wasser, Iso, Bagles, Bananen und Power Bar sind für lau zu haben. Gute Voraussetzungen also, um mit einer positiven Energiebilanz aus dem Rennen zu kommen!
Das Wetter sieht zumindest trocken aus, es ist bewölkt. Ich bin froh, Jeans und Fleece Shirt anzuhaben, friere aber nicht. Erwartet werden heute trockene 13° Celsius bei gelegentlichem Sonnenschein, ideale Verhältnisse also. Im letzten Jahr schüttete es vor dem Lauf wie aus Eimern, die Läufer waren schon durchnässt, bevor sie überhaupt die Busse nach Hopkinton bestiegen hatten. Ich habe Glück und finde einen Platz an einer Mauer mit Blick auf das Geschehen, wo ich mich anlehnen kann. Es empfiehlt sich unbedingt, eine größere Plastikplane mitzubringen, denn es sind fast drei Stunden Zeit, die gefüllt werden müssen. Einige Erfahrene haben sogar eine einfache Luftmatratze dabei, die sie mit Sicherheit zurücklassen werden.
Neben mir sitzt Carley Gering aus Kanada und plappert wie ein Wasserfall. Ich erkläre ihr, daß ihr Name – deutsche Vorfahren hat sie – vermutlich von einem kleinen Dorf auf dem Maifeld zwischen Polch und Mayen in der Eifel stammt.
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Gegen 09.15 Uhr mache ich mich lauffertig und begebe mich aus dem Athletendorf zu den ca. 1 km entfernten Startblocks. Alles ist super ausgeschildert, ein Verirren unmöglich. Auf dem Weg dorthin sind unsere Busse aufgereiht, in die man über die offenen Fenster seinen Kleidersack an der Stelle seiner Startnummer abgeben kann, der dann zum Ziel gefahren wird. Ich habe mich entschieden, ein Langarmshirt unter meinem Trägerhemd anzuziehen. Fehler, aber irgendwann muß man sich halt entscheiden. Noch in der Schlange vor dem letzten Dixi-Gang bricht die Sonne plötzlich aus den Wolken. Mittags werden es 15° (im Schatten – den man auf der ganzen Strecke vergeblich suchen wird -) sein.
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Wir stellen uns in 22 Blocks zu je ca. 1000 Startern auf. Insgesamt werden heute rund 25.000 Athleten unterwegs sein, die zweitgrößte Beteiligung nach dem Rekordjahr 1996 (100. Jubiläum). Ich stehe zufällig exakt vor meinen Block und muß nicht suchen. Die ersten beiden Ziffern der Startnummer entsprechen der Blocknummer. Vor uns sind schon die Rollis und die Frauenelite gestartet. Um 10 Uhr erfolgt der Startschuß für die Männerelite und die erste Welle mit blauen Startnummern, um 10.30 Uhr darf dann auch die zweite Welle mit roten Startnummern auf die Piste.
Die ersten Meter führen bergan durch Hopkinton mit seinen knapp 15.000 Einwohnern. Die gesamte erste Hälfte bis Wellesley gestaltet sich optisch fast gleich. Immer wieder wechseln sich kleine Straßendörfer mit Wald und unbebautem Gelände ab. Wer aber meint, das sei langweilig, irrt sich gewaltig. Hier ist dermaßen der Bär los, dass man meint, bei einem der großen Stadtmarathons unterwegs zu sein. Hier wird der Marathon von der Bevölkerung gelebt. Man hat den Eindruck, daß wirklich jeder, der sich halbwegs auf den Beinen halten kann, an der Strecke steht und vom ersten Meter an, wirklich vom ersten Meter die Läufer enthusiastisch anfeuert.
Das erste Drittel der Strecke ist abfallend, daher beherzige ich die zwei Tips, die man uns auf der Messe bei der Vorführung des Streckenvideos eingehämmert hat: erstens am Anfang langsam machen (so wirklich neu ist das Thema ja nicht) und vor allem beachten, daß Halbzeit nicht bei 13,1 Meilen ist, sondern bei Meile 21 auf dem Heartbreak Hill. Trotzdem, obwohl ich nur am Rollen bin, laufe ich zunächst deutlich unter meinem avisierten Schnitt von 9 min/Meile.
Schon nach 2 Meilen kommt die erste der beidseitigen Versorgungsstationen mit Wasser und Iso. Feste Verpflegung wird es aber während des ganzen Wettbewerbs nicht geben. Die Meilen werden einzeln angezeigt, die km zunächst auch, später nur noch alle 5. Digitaluhren stehen bei allen 5 km-Abschnitten. Die dort gemessenen Zeiten werden sofort auf die Homepage übertragen und erlauben den Fans zuhause ein Mitfiebern. Übrigens wird das Rennen auch im Internet live übertragen.
Über Ashland, Framingham, den Lake Cochituate und Natick führt die erste Hälfte. Die Meilen fliegen nur so dahin. Es ist die pure Freude, immer wieder im Dialog mit den vielen Zuschauern zu stehen. Ich trage wieder das DLV-Nationaltrikot. Jeder, der nur den kleinsten Bezug zu Deutschland hat, versucht sich einzubringen. „Go Deutschland“, „Wie gejt’s“, „Auf Wiedersejhn“ erschallt es immer wieder. Das beliebte „Deutschland uber alles“ erklingt erstmals bei Meile 6. Immer wieder bieten die Kleinen Eis, Süßigkeiten, Wasser und Orangen an. Letzteren kann ich nicht widerstehen und greife trotz der Säure zu. Es bekommt mir gut.
Natürlich bin ich in meinem Überschwang der Gefühle viel zu unvernünftig. Oft laufe ich gerade zu den Kleinsten zum Straßenrand. Zwei-, dreijährige Stoppelhopser sind das, deren Mütter hochbeglückt sind, wenn ich ihre Kinder (vorsichtig) abklatsche und über den Kopf streichele. Immer wieder bleibe ich für Fotostops stehen. Mann, ist das ein geiler Marathon!
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Ein Nikolaus am Straßenrand erfreut sich großer Beliebtheit, kurz danach ein als Ente Kostümierter und an einem Baum entdecke ich zu meinem großen Erstaunen ein Anfeuerungsschild für eine Läuferin meines Namens. Das wird natürlich sofort mit den Leuten vor Ort geklärt und alle sind am Lachen.
Da – kurz vor der Halbzeit beginne ich es zu hören. Erst kaum zu vernehmen, dann immer lauter. Und durchgehend. Grell. Laut. Hysterisch. Die Mädels vom Wellesley College. Etwa 15, 16jährige Gören, die über Hunderte von Metern an den Absperrungen stehen und sich die Lungen aus den Leibern schreien. Sie wissen, daß dieser Abschnitt seit Generationen legendär ist und tun alles, um den Erwartungen gerecht werden. Letztlich weiß ich nicht, wer lauter geschrien hat: die oder ich. Ungezählte Hände klatsche ich ab, nach schriftlicher (Plakat) und geschriener Aufforderung wird die eine oder andere auch geknutscht (Mann gönnt sich ja sonst nichts), meine Hände brennen, als das Geländes des Colleges endlich abgelaufen ist. Das nächste Eis ist hochwillkommen.
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Plötzlich höre ich das Publikum wie aus einem Munde buhen, das aber erkennbar freundlich/amüsiert. Was ist passiert? Ein Läufer in Baseballkleidung, läuft im Outfit der offensichtlich falschen Mannschaft provozierend mit flatterndem Fähnchen um die Ecke. Ein uniformierter Schalke-Fan am Borsigplatz in Dortmund hätte keinen größeren Aufstand provozieren können.
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Ach ja: für die von mir bestellte DVD muß man natürlich zwischendurch auch mal den Starken mimen: beim Start, bei km 10, 15, HM, km 30 und am Ende stehen die Kameras und ich bemühe mich, besonders cool und elegant zu wirken. Zu hause betrachtet wird mir das wieder peinlich sein. Jetzt ist mir das aber herzlich egal.
Halbmarathon ist bei ca. 1:55, eindeutig zu schnell. Meine wenig kräftesparende Laufweise beginnt sich langsam bemerkbar zu machen. Die Oberschenkel beginnen hart zu werden. Meine mittlerweile historischen Rennschuhe haben offensichtlich auch jede Dämpfung eingebüßt und ich beschließe, daß dies ihr letzter Einsatz sein wird. Die Nachfolger werden am nächsten Tag direkt günstig erworben.
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Auffällig sind auch viele Athleten mit unterschiedlichen Handicaps, die von einem bis zwei Führern begleitet werden. Nach einem Ausdrucks höchsten Respekts freuen sich ausnahmslos alle, von mir geknipst und auf einer, nein, DER German Marathon Website veröffentlicht zu werden. Besonders fällt mir ein geschobener Rollstuhlfahrer auf. Ich denke mir nichts Besonderes dabei, bis ich im November 2008 auf folgenden Bericht stieß. Kein Zweifel - das müssen sie sein!
Kurz vor Meile 17 erfolgt punktgenau die Versorgung mit Power Gel. Offensichtlich wird man hier bereits auf die zu erwartenden Strapazen im Bereich Newton eingestimmt. Jede Menge Tütchen werden unters Volk gebracht, leider kleben sie bereits von außen erbärmlich. So nutze ich die nächste Wasserstelle auch zum Händewaschen und ein Eisstückchen tut sein übriges.
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Gespannt erwarte ich den legendären Heartbreak Hill als letzten von vier Hügeln in Newton. Was habe ich darüber schon Grausames gehört! „Kill the hill!“ ist in aller Munde. Der spätere Zweitplazierte wird tags darauf in der Zeitung mit den weisen Worten zitiert: „Up, he said, is the problem.“ Durch erfolgreiches Suchen im Internet hatte ich ein Video vom Streckenverlauf auf Youtube entdeckt und die Einweisung auf der Messe ebenfalls zum Erkenntnisgewinn genutzt. Auf beiden Videos sah er allerdings relativ undramatisch aus, also sollte er doch für einen gestandenen, bergerprobten Westerwälder kein ernsthaftes Problem darstellen!
Bei Meile 20,5 ist es nach drei kleineren Hügeln endlich soweit: das große „Sterben“ beginnt. Reihenweise wird gegangen, gewalkt, geschlichen. Vater läuft. Läuft sogar schneller, denn, um es offen zu sagen (es bleibt aber unter uns), der Hügel ist vollkommen problemlos zu laufen. Es macht mir ein diabolisches Vergnügen, mit scheinbar teilnahmslosem Gesicht viele Läufer einzusammeln. Also, noch mal: keine Panik vor dem Heartbreak Hill. Wer nicht ein ausgesprochener Flachlandtiroler ist und keine Hügelläufe trainiert, wird keine Probleme haben. Fakt bleibt natürlich, daß jede Steigung gegen Ende des Wettkampfs schmerzt. Mich auch.
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Die Spitze des Heartbreak Hill ist keine halbe Meile später erreicht und was ich mir erhofft habe, tritt ein: wie ein HB-Männchen springt Steve (das ist der, der mir am ersten Tag in der U-Bahn die Insiderinformationen gegeben hat) unter der Absperrung durch und fällt mir um den Hals. Er hatte versprochen, auf mich exakt hier zu warten und ich habe ihm gesagt, ich würde ihn beim Wort nehmen. Wir nehmen uns die Zeit für ein Erinnerungsfoto und müssen uns dann leider trennen, denn noch liegen gute 5 Meilen vor mir. Daß gerade auf dieser Steigung die Zuschauer fast verrückt spielen, brauche ich eigentlich kaum noch zu erwähnen. Das hat etwas von der Tour de France.
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Wir nähern uns Boston. Zuschauer ohne Ende. In einer der wenigen Kurven ist die Stimmung etwas erschlafft. Ich schreie die Leute an und versuche etwas Bewegung in sie hineinzubringen. Das war die Initialzündung. Ohrenbetäubendes Geschrei begleitet Deutschland. Wir entern die Beacon Street. Erinnerungen an meinen Frankfurt-Marathon kommen hoch. Das ist Mainzer Landstraße pur, die 2004 noch am Ende gelaufen wurde. Du siehst eine ewig weite Gerade, voll mit Läufern, die kein Ende zu nehmen scheint. Also, Blick weg von vorne und den Kontakt zu den Fans gesucht. Das hilft. Die letzten Meilen, ich gebe es zu, tun weh. Aber dieses unglaubliche Publikum peitscht einen nach vorne und lässt keine gezeigte Schwäche zu. Ein letzter Anstieg, dann biegen wir links auf die Zielgerade, die Boylston Street, ein.
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Ein unglaublich toller Zieleinlauf folgt. Ich knipse ein letztes Foto 200 m vor den beiden Toren und lasse mich mit den anderen ausgiebig feiern. Das linke Tor ist für mich, erste Welle, das zweite rechte für die Einläufer der zweiten Welle (die eine halbe Stunde aufgeholt haben). Einerseits bin ich wie immer heilfroh, angekommen zu sein, andererseits bedauere ich sofort, daß dieses supertolle Ereignis in diesem Augenblick für mich schon Geschichte ist. Die schmerzenden Oberschenkel holen mich aber sofort in die Realität zurück. Ich dehne mich etwas und sofort ist eine „Medic“ bei mir und erkundigt sich, ob ich mich gut fühle. Sehr aufmerksam. Danach folgen, perfekt aufeinander abgestimmt, Versorgung mit Wasser und Iso, Chipabgabe (wer keinen eigenen hatte), Medaillenübergabe, Verpflegungstüte, Bananen, Wärmeschutzfolie und Umkleidezelt (nur eines für Männlein und Weiblein und das bei den bekanntermaßen prüden Amerikanern!).
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Mit 3:54 Std. bin ich allerdings viel zu früh eingelaufen. Mein „Coach“ Andreas Butz, hatte mir 4:05 bis 4:10 Std. zzgl. (!) Fotozeit vorgegeben. Das wären bei mindestens 70 geschossenen Fotos weitere etliche Minuten gewesen. Hoffentlich wird sich das in 13 Tagen in Windhagen nicht bitter rächen. Ich gelobe sofort, dort, komme was wolle, wesentlich langsamer anzulaufen. Wenig später treffe ich meine Frau, die brav unter dem Buchstaben „B“ steht, in der Family Meeting Area. Durch diese intelligente Art der Beschilderung ist für alle ein Wiedersehen garantiert.
Resümee: Boston ist ein grandioses Erlebnis, das ich jedem, der in der Lage ist, die Reise zu finanzieren (für einen Normalverdiener erschwinglich, insbesondere bei erfolgreicher Qualifikation), nur wärmstens empfehlen kann. Superorganisation, bei der es nichts, aber auch wirklich gar nichts zu meckern gibt, nur freundliche, hilfsbereite Menschen (auch außerhalb des Marathongeschehens), und ein nicht zu überbietendes Publikum auf der kompletten Strecke. Daß das Wetter vom ersten bis zum letzten Tag perfekt war, rundete die Sache ab. Sorry Andi, 2007 muß es ganz anders gewesen sein. Aber das lässt sich halt nicht planen.
Streckenbeschreibung: Punkt-zu-Punkt-Kurs, wellig, insgesamt fast 150 m abfallend, das erste Drittel stärker, einige Hügel am Beginn des letzten Viertels (u. a. „Heartbreak Hill“), danach wieder ins Ziel abfallend (überschlägig ermittelte zu nehmende 170 HM)
Zeitnahme: Schwarzer Champion-Chip, wird vor der Medaillenüberreichung wieder abgenommen
Rahmenprogramm: Pasta-Party am Vorabend, umfangreiche Marathonmesse, Post-race Dance Party
Weitere Veranstaltungen: Normalerweise findet am Vortag ein Freundschaftslauf statt. 2008 fiel er aus zugunsten der US-Olympia-Ausscheidung der Frauen für Peking 2008
Auszeichnungen: Medaille, Langarmshirt, Urkunde aus dem Internet
Logistik: Organisierter Transport mit Bussen zum Start in Hopkinton (unbedingt nutzen!), 26 Rot Kreuz-Stationen auf der Strecke, medizinische Versorgung im Ziel, Massagemöglichkeiten, keine Duschen (!)
Verpflegung: Wasser und Iso ab Meile 2, Gel an Meile 17, ausreichende Zielverpflegung
Zuschauer: Obwohl über lange Zeit eher ein Landschaftslauf, ist das Interesse des phantastischen Publikums riesig.
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