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8. Karwendellauf am 27.08.2016
 

AC/DC im Karwendel

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Es tut schon weh, sich am heimischen Bildschirm die Fotos und begeisterten Berichte der Kollegen von diversen Veranstaltungen anschauen zu müssen und nicht selber dabei sein zu können: Jungfrau, Zermatt, Davos, Brixen Dolomiten, um nur einige der spektakulären Läufe im Hochgebirge zu nennen, finden ohne mich statt. Allerdings ist dieser Schmerz dank eines fetten Trostpflasters, das da Karwendelmarsch heißt, in diesem Jahr doch noch zu verarbeiten. Auch wenn die Anfahrt erneut deutlich mehr als unerheblich weit ist, bin ich nach einigen Jahren der Planung diesmal endlich mit von der Partie und freue mich auf einen phantastischen Lauf bei hoffentlich ähnlich traumhaftem Wetter wie im vergangenen Jahr. So sind Elke und ich wieder mal in freudiger Erregung auf das, was uns erwarten wird und hoffen auf eine schöne Urlaubswoche im Herz der Alpen.

Freitagabends schlagen wir in Pertisau am Achensee und damit am Ziel des morgigen Karwendellaufs auf. Alleine schon der Anblick des Sees, den wir in der kommenden Woche ausgiebig zu erkunden beabsichtigen, entschädigt für die vielen Stunden in der Blechlawine. Zeitig geht es in die Heia, um nach der Fahrt fit für morgen zu sein. Zeitig ist auch das Stichwort fürs Aufstehen, denn sehr früh müssen mein Freund Klaus, der mit seiner Barbara aus München gekommen ist, und ich aus den Federn, um den Bus zum Startort nach Scharnitz zu bekommen. Wobei früh ein sehr relativer Begriff ist: Klar ist 4 Uhr morgens eigentlich keine Zeit, samstags aktiv zu werden, aber der 4 Uhr-Bus ist tatsächlich schon der letztmögliche, andere sind schon um 2 bzw. 3 Uhr losgefahren.

Richtig Mut im Vorfeld macht einem eine Webseite mit der Adresse karwendelmarsch.at, hinter der sich glücklicherweise eben nicht die Veranstalter verbergen (die richtige hat „info“ als Top Level Domain). Auf ihrer Startseite bietet nämlich ein Bestattungsinstitut (Bestattungs“anstalt“) seine Dienste an: Man läßt uns die Wahl zwischen freier Ascheverwendung, Berg- oder Naturbestattung. Prost Mahlzeit, eigentlich ich wollte die Geschichte überleben! Nun gut, mit uns finden sich insgesamt rund zweieinhalbtausend mehr oder wenig freudig erregte Läufer und Wanderer ein, welche entweder die Bambinidistanz über 35 km oder die Erwachsenenversion über 52 km in Angriff nehmen. Bereits seit sechs Wochen ist die Veranstaltung restlos ausgebucht, wobei der Anteil der Wanderer mit knapp 1.800 deutlich über der der Läufer mit rund 700 liegt. Ursächlich hierfür ist die Entstehung des Ereignisses, das ursprünglich eine reine Wanderung war und nach einer neunzehnjährigen schöpferischen Pause wie Phoenix aus der Asche als Wanderung plus Lauf wiedererstand.
 

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Eine gute Stunde dauert die Anfahrt zum „Tor ins Karwendel“ nach Scharnitz (964 m), wo vor über 3.000 Jahren die Menschen mit der Besiedlung und Nutzung des Karwendelgebirges begonnen hatten. Runde 1.000 Jahre später, in der Zeit um Christi Geburt, errichteten die Römer bei Scharnitz das Kastell "Mansio Scarbia", das ihnen als Unterkunfts- und Nächtigungsstation für die Soldaten, sowie als Rastplatz und als Post- und Haltestation diente. 763 n. Chr. gründeten bayrische Adelige auf Veranlassung des Bischofs von Freising und mit Zustimmung ihrer Herzöge in der Einöde „solitudine Scarantiensi“ – das Kloster „Scaraza“ – manchmal auch „Scarantia“ genannt und eine Kirche zu Ehren des Hl. Petrus. Noch im 14. und 15. Jahrhundert galt für die Gegend von Partenkirchen bis fast Zirl die Bezeichnung „Scharnitzwald“ oder kurz „die Scharnitz“.

1.400 Seelen wohnen aktuell in der heutigen Gemeinde an der bayrisch-tiroler Grenze mit der Quelle der Isar, die später, leicht verbreitert, München passieren wird. Da werde ich sie in fünf Wochen bei meinem nächsten langen Lauf live bewundern dürfen. Klaus hatte dankenswerterweise auf seiner Anreise den Weg über Scharnitz genommen, daher haben wir unsere Startunterlagen bereits und es gibt keinen Grund, Hektik aufkommen zu lassen. Die Szenerie ist zwar noch stockdunkel, aber bereits wuselig aktiv. Wer nicht wie wir ein Lunchpaket mitbekommen hat, kann an mehreren Stationen seinen Hunger und Kaffeedurst stillen, es riecht bereits sehr lecker. Und auch für die nicht so leckeren Angelegenheiten ist bestens gesorgt, sodaß wir um 6:00 Uhr völlig unbeschwert an der Startlinie stehen. Wir sind übrigens auch M4Y-Kollegen Greppi und Bernie, den auch die teilweise Wetterunbilden der vergangenen Jahre nicht von einem x-ten Start abgehalten haben. Irre, daß wir uns bei dieser Menge an Sportlern ohne Absprache treffen!
 

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Los geht’s am Gemeindeplatz, 52 km mit 2.281 Höhenmetern liegen vor uns! Ich starte am Startbogen der mit roten Nummern versehenen Läufer, jedoch haben sich auch viele Marschierer mit blauen Nummern unter uns gemischt. Klaus und ich haben beschlossen, auf Gedeih und Verderb zusammenzulaufen, ganz nach dem Motto: Wir bleiben zusammen, bis daß der Berg uns scheidet. Mit von der Partie ist auch der Kufsteiner Günter, den wir auf einer Wanderwoche als begnadeten Berggeher kennengelernt haben und der als Marschierer startet. Er wird uns gnadenlos abziehen. Die Bergauf- und -abmeter sind für mich ein echtes Brett, wie ich zuletzt beim Trainingslauf auf dem Solinger Klingenpfad erleben durfte: 73,5 km mit 1.750 Höhenmetern standen auf dem Plan, nach der neunten von zwölf Kurzetappen war Ende im Gelände. Gut, 54,4 km und 1.400 HM waren schon ok, aber meiner Psyche hat der Abbruch nicht gutgetan. Das einzige, das mich für heute halbwegs beruhigt ist, daß der bajuwarische Klaus deutlich weniger Berge trainiert hat als ich.

Anzugsmäßig hatten wir uns jedenfalls auf alles eingestellt. Wenn nicht nur heute eines klar ist, dann die Tatsache, daß mit dem Wetter im (vergleichsweise Hoch)Gebirge nicht zu spaßen ist. Ich habe weder den Rennabbruch 2011 (mehr dazu in Bernies Bericht) noch die beiden Toten bei einem der letzten Zugspitz-Extrembergläufe vergessen, die allen Vorwarnungen zum Trotz nur mit leichter Laufbekleidung unterwegs waren, von einem brutalen Wetterumschwung überrascht wurden und erfroren. Daher sind wir beide erstmals aus Sicherheitsgründen mit Rucksäcken unterwegs und hatten die Absicht, selbst wenn das im Gegensatz zu anderen, härteren Läufen nicht kontrolliert wird, eine Art Notfallausrüstung dabeizuhaben: Laufjacke, Ärmlinge, Mütze, Handschuhe und auch ein Ganzkörperkondom, denn die hätten uns im Fall der Fälle wirklich wichtig werden können. Gerade letzteres hat mir mal beim Eisweinlauf (Ultra) gute Dienste geleistet. Sogar an Getränke und etwas zu beißen haben wir gedacht. Auch wenn das bei der angekündigten Verpflegungsdichte eigentlich nicht notwendig sein sollte, beruhigt es unsere Nerven, im Zweifelsfall jederzeit darauf zugreifen zu können. Die Wettervorhersage mit sicheren späteren 30° im Ziel und jetzt schon mindestens 15° am Start veranlaßt uns in letzter Minute, die Vorsichtsmaßnahmen über Bord zu werfen und das meiste dem Gepäcktransport zum Ziel anzuvertrauen.

Los geht’s auf gut gefülltem Weg, wo man aufpassen muß, nicht von bestockten Kameraden an- oder gar aufgespießt zu werden, denn einige meinen die Gehhilfen bereits auf der ersten kleinen Steigung zu benötigen. So zieht sich das Feld auf den ersten km langsam auseinander und ich freue mich, von einigen lieben Laufkameraden bei meiner aufopferungsvollen Reportertätigkeit erkannt zu werden: Dirk ist als persönlicher Zugläufer da und auch Hansi und Jörg, regelmäßige Teilnehmer an meinem Wiedtal-Ultratrail (die fünfte Ausgabe am 01.04.2017) haben den Weg ins Karwendel gefunden. Den ersten Mißerfolg ernte ich leider direkt, denn die Fotos der ersten Stunde kann ich direkt in die Tonne kloppen. Mist.

Knapp eine Gehstunde oberhalb von Scharnitz, am alten Weg ins Karwendeltal in Richtung Karwendelhaus, steht einsam und versteckt im Wald die der Muttergottes geweihte Birzelkapelle. Das erste Mal 1809 erwähnt, wurde die baufällige ursprüngliche Kapelle 1956 durch einen Neubau ersetzt. Aufgrund der Fürsprache der Gottesmutter soll sie uns vor Unwetter und Blitzschlag, der im Hochgebirge besonders gefährlich ist, schützen. Das finden wir prima, denn bei unserer Kombination aus (beabsichtigter) Notfallausrüstung und Muttergottes sollte doch nichts schieflaufen. Wie heißt es so schön und für uns absolut treffend in dem berühmten Marienlied des Innsbrucker Musikverlegers Michael Wagner von 1640, das wir erst am Sonntag beim Patronatsfest in unserer Pfarrkirche Maria Himmelfahrt schmetterten?

„Maria, breite den Mantel aus,
mache Schirm und Schild für uns daraus;
lasse uns darunter sicher stehen,
bis alle Stürm vorüber gehen.
Patronin voller Güte,
uns allezeit behüte.”
 

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Mittlerweile ist es hell geworden und wir können, noch fast vollständig im Flachen, die morgendliche Bergwelt bewundern. Gut zu belaufen ist der geschotterte Weg, die Gespräche sind nett und die Welt ist schön. Noch. Au Backe. Gut, daß ich noch keine Ahnung von dem habe, was mich insbesondere auf der zweiten Hälfte erwarten wird. Dann erfolgt ein grandioses Naturschauspiel, denn die ersten Sonnenstrahlen bescheinen einige Bergspitzen, leider kann die Kamera auch das kaum adäquat einfangen. Aber das Hochgefühl bleibt unbenommen, das hat wirklich etwas von „Im Frühtau zu Berge wir zieh'n...“ Einfach herrlich. Dann, kurz vor der ersten Labestation, wie die Ösis zu sagen pflegen, ein Bild für die Götter: Vor uns steht der Dunst in den Wiesen wie ein weicher Watteteppich, gleich reihenweise bleiben die Leute stehen und versuchen dies mit iPhone & Co. einzufangen und für die Ewigkeit zu bewahren. Wunderschön.

Auf dem Schafstallboden (1.173 m) bei 9,58 km an der Larchetalm bekommen wir dann zum ersten Mal zu essen und trinken, die Schützengilde Scharnitz hat jetzt schon aufgefahren, als hätten wir bereits richtig etwas geleistet. Immer noch flach im Dunst geht es zügig auf gutem Weg voran,  mittlerweile hat die Sonne die Hälfte der Berge in ihren Glanz gehüllt. Wir, also zumindest ich, sind froh, daß sie uns noch nicht erreicht, denn was heute temperaturtechnisch auf uns zukommen wird, können wir uns leicht ausmalen. Dann geht’s aufwärts, Klaus packt die Stöcke aus und tut es damit gefühlt der Hälfte der Teilnehmer gleich. Ich werde auf den restlichen knapp 40 km ausreichend Gelegenheit haben, mir für meine Person darüber so meine Gedanken zu machen. Mit Stockeinsatz laufen und dabei ständig die Kamera ein- und auspacken? Bisher habe ich diese bei jedem Lauf immer in der Hand gehalten, allzeit bereit, sozusagen. Mal nachdenken. Der erste von vielen noch folgenden Wasserbottichen steht am Weg, die ersten nutzen ihn bereits zur Abkühlung.
 

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Der erste Rückblick ins Tal, aus dem wir gekommen sind, ist so phantastisch, daß ich die Kamera direkt wieder zücken muß. Auf immer noch ordentlichem Weg, aber bereits deutlich ansteigend, nähern wir uns dem Karwendelhaus (1.771 m) bei 18,19 km. Es ist eine Alpenvereinshütte des Deutschen Alpenvereins unweit des Hochalmsattels mit Blick ins tiefer gelegene Karwendeltal. Das 1908 erbaute Schutzhaus liegt inmitten des Karwendels in Tirol, nicht weit entfernt von der Grenze zu Bayern und wegen der zentralen Lage und den zahlreichen Tourenmöglichkeiten für Bergsteiger ein wichtiger Stützpunkt bei mehrtägigen Wanderungen. A propos Grenze zu Bayern: Vier Fünftel des Karwendels gehören zu Österreich, unser Lauf führt  ausschließlich durch Tirol. Heutzutage spielt das Gott sei Dank ja keine Rolle mehr. Eine Rolle spielt ab sofort die Sonne, die uns nach exakt 17 km zum ersten Mal voll im Griff hat. Höhepunkt der hiesigen Verpflegung ist die in Trinkbechern ausgeschenkte Kartoffelsuppe, in die ich mich hätte hineinlegen können, so gut schmeckt sie mir. Die Masse der bereitliegenden Brote mit Käse und mehreren Wurstsorten erschlägt einen allein schon vom Anblick, aber leider kann ich nicht alles essen. Denn noch warten die meisten Höhenmeter des Karwendelgebirges auf mich und so viel will ich auch nicht hinaufschleppen.
 

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Weiter führt der Weg bergan. Gegen 1550 begannen im Karwendel die ersten großflächigen Rodungen zur Schaffung von Almen, einige Zeugnisse sind heute noch erhalten: So ist der große Ahornboden, dessen kleinen Bruder wir bald besichtigen werden, entgegen der landläufigen Meinung ein künstlich geschaffener Ort. Darüber hinaus zwang der Beginn des 30jährigen Krieges viele Bauern dazu, mit ihrem Vieh zum Schutz vor Plünderungen in abgelegene Gebiete abzuwandern. Heute findet man diese Gebiete z.B. unterhalb der Talelespitze, in der Faulen Eng oder am Plumsjoch. Im Rahmen der Rodungen wurde auch das erstemal die Holzdrift auf der Isar praktiziert. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde so das Holz aus den Karwendeltälern nach Scharnitz und Mittenwald geschafft. Experten können die Folgen der langandauernden Übernutzung heute noch ausmachen.

Über Serpentinen geht es dann bergab zum kleine Ahornboden auf 1.399 m. Er befindet sich bei km 24,23 am südlichen Ende des Johannestals direkt unterhalb der steil abfallenden Nordwände der Hinterautal-Vomper-Kette und beherbergt, wie sein großer Bruder, alte Berg-Ahornbestände. Beide zusammen bilden seit 1928 ein tirolerisch-bayrisches Landschafts- und Naturschutzgebiet. Zahlreiche der 300 bis 600 Jahre alten und sehr knorrigen Ahornbäume haben ihre natürliche Altersgrenze erreicht, die Leichen läßt man jedoch stehen, wie mir scheint. Da die natürliche Verjüngung aufgrund veränderter Boden- und Wasserverhältnisse und durch die Beweidung von Vieh und Wild nicht funktioniert, so habe ich gelernt, werden abgestorbene Bäume durch Neupflanzungen ersetzt.
 

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Der vor allem als Erschließer des Karwendels bekannte Rechtsreferendar Hermann Freiherr von Barth bestieg im Sommer 1870 fünfundzwanzigjährig als Alleingänger 88 Gipfel (zwölf davon erstmals). Zahlreiche nach ihm benannte geographische Objekte belegen seine Verdienste um die Erschließung der Nördlichen Kalkalpen. Ein Denkmal hat man ihm am Kleinen Ahornboden gewidmet. Vielleicht kommt ja irgendwann einmal auch eines für die Geschäftsführer  der beiden Veranstalterregionen, Martin Tschoner (TVB Achensee), und Markus Tschoner (Olympiaregion Seefeld), die uns den heutigen Tag ermöglichen, dazu. Verdient hätten sie es.

Leider muß ich mich von diesem Anblick schon bald wieder loseisen, ein schwierig zu durchquerendes Geröllfeld ist die nächste Herausforderung. Grober Schotter auf mal schmaleren, mal breiteren Wegen bildet den weiteren Untergrund. Und wieder müssen wir hoch hinaus, die anfänglichen vielstimmigen Gespräche sind mittlerweile vollständig verstummt, jeder ist mit sich alleine ausreichend beschäftigt. Immer schwieriger wird der Untergrund, von einem Weg kann schon lange nicht mehr gesprochen werden. Jeder Schritt in den Felsen will wohlüberlegt sein, zumindest bei mir. Schwer hoch geht es in praller Sonne zu unserem nächsten Ziel, der Falkenhütte. Zwischen 1921 und 1923 erbaut und seit diesem Jahr unter Denkmalschutz stehend, ist die attraktive Hütte auf 1.848 m bei km 30,23 eine Alpenvereinshütte des Deutschen Alpenvereins direkt nördlich über dem Spielissjoch (1.773 m). Sie befindet sich in der Falkengruppe gegenüber den Nordabstürzen der Laliderer Spitze und zwischen Kleinem und Großem Ahornboden. Insbesondere bei Bergsteigern ist sie wegen ihrer Lage und den umfangreichen Tourenmöglichkeiten hochbeliebt. Auch hier ist die Verpflegung reichlich und alles biologisch produziert. Das Gesicht kenne ich doch? Na klar, der Udo aus Augsburg! „Angestrengt siehst Du aus“, sage ich dem begeisterten Läufer wahrheitsgemäß. „Na ja, wenn man sich vorgenommen hat, alles laufend zu absolvieren!“

Steil hinab über ganz schlechte Wege geht es in Richtung Eng Alm, wieder muß ich auf jeden einzelnen meiner Schritte achten, um nicht umzuknicken. Ich bin gewiß kein Flachlandtiroler und viele Bergauf- und -abmeter gewöhnt, aber nicht auf solchem Geläuf. Folglich bin ich auch bergab sehr langsam, häufig nur gehend, unbedingt Stürze vermeiden wollend. Von wegen hinunter Zeit gutmachen, Pustekuchen! Sensationell sehen die vor uns liegenden Trails aus, die sich serpentinenartig den Fels entlang schlängeln. Schön ist, daß wir immer wieder mal schattige Abschnitte haben, die die mittlerweile gleißende Sonne erträglicher machen. Eng ist er, der Weg zur Eng Alm, und schlecht: Von Wasser durchzogen und damit rutschig, von vielen groben Steinen durchzogen, kommt bei mir kein Gedanke an ein Hinunterhüpfen auf. Eigentlich war Gams mein zweiter Vorname, aber den ersetze ich ab sofort durch Dumbo. Wer damit nichts anfangen kann, schlage bei Walt Disney nach. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie man hier unter viereinhalb Stunden ins Ziel kommen kann, der Streckenrekord steht bei 4:11 Stunden. Für 52 km mit 2.281 Höhenmetern! Red Bull, Flügel und so? Wie hieß der Spruch des Tages in unserer Herberge? „Man kann die eigenen Grenzen nur feststellen, indem man sie gelegentlich überschreitet. Das gilt für jene, die man sich selbst setzt, ebenso für jene, die einem andere setzen.“ (Josef Broukal). Wie wahr. Irgendwann ist der nächste Verpflegungspunkt dann doch erreicht.
 

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Auf 1.227 m erreichen die 35 km-Läufer und Wanderer hier mit dem Almdorf Eng ihr Ziel. Ultraläufer und –wanderer, für die es hier eng wird (man beachte den unglaublichen Wortwitz!), können mit Wertung aussteigen, durch eine elektronische Zeitnahme garantiert. Ich bin schon so verpeilt, daß ich das Beweisfoto vergesse. Geformt durch jahrhundertelange bäuerliche Bewirtschaftung ist die Eng ein beliebtes Ausflugsziel und Ausgangspunkt vieler Bergwanderungen. Auf der größten Melkalm des Landes wird die weidefrische Milch an Ort und Stelle zu Butter und Käse verarbeitet, die direkt vor Ort verkostet werden können. Das größte Almdorf Tirols hat viel von seiner Ursprünglichkeit beibehalten und hinterläßt beim Besucher einen bleibenden Eindruck.

Das Jungvieh der Eng Alm wird in den Sommermonaten auf die urige Ladiz Hochalm getrieben, um dort zu weiden. Jedes Jahr veranstaltet der Verein Naturpark Karwendel einen Tag der Almpflege, an dem Interessierte bei sog. Schwendarbeiten mit anpacken und ihren Beitrag zum Erhalt dieser Kulturlandschaft leisten sowie die Arbeit auf einer Alm kennenlernen können. So kann auch dadurch eine wertvolle alpine Kulturlandschaft erhalten werden, die vielen typischen Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum dient. Besonders das Birkhuhn profitiert von der inselartigen Auflichtung des Latschenbestandes. Mich interessiert derweil mehr die Heidelbeersuppe, die ich mir angesichts der Hitze literweise einflößen könnte. Wirklich lecker ist sie, jedoch trinke ich mittlerweile alles durcheinander, was angeboten wird: Wasser, Holundersaft und Tee sind zusätzlich im Angebot, einmal auch Bouillon. Prima finde ich auch die portionierten Salztütchen, von denen ich mir an jeder Station eines reinpfeife. Ist zwar nicht lecker, verhindert aber erfolgreich Krämpfe.
 

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Mit den Laliderer Wänden erwartet uns eine aufeinanderfolgende Reihe fast senkrechter Felswände im Zentrum des Karwendels und eines der bekanntesten Klettergebiete der Nördlichen Kalkalpen. Sie sind etwa 900 Meter hoch und reichen bis knapp unter die Gipfelbereiche von Grubenkar- (2.663 m) und Laliderer Spitze (2.588 m). Letztere beherbergt etwas ganz Besonderes: 1948 hatten die "Karwendler", ein Club extremer Bergsteiger aus Innsbruck, ein Holzhäuschen auf die ausgesetzte Schneide gestellt. Es sollte Wanderern und Kletterern Schutz bieten. Knapp 50 Jahre später wurde das marode Hüttchen durch eine Konstruktion ersetzt, die ein bisschen aussieht wie Eagle, die Mondlandefähre der Nasa-Mission Apollo 11. Mitten im Geröll steht sie, auf abschüssigem Grund, etwa zehn Meter unter dem messerscharfen Grat, hinter dem die Laliderer Wände 800 Meter tief abstürzen. "Notunterkunft" ist für das neue Karl-Schuster-Biwak allerdings eine Untertreibung: Es gibt eine Kochstelle und einen Tisch, und eine Solarzelle speist Beleuchtung und Notruftelefon mit Strom. Eine Plexiglaskuppel bildet das Dach, zwei auf zwei Meter. Tagsüber lässt sie Licht herein und gibt nachts den Blick auf den Sternenhimmel frei. Ein Foto von ihr wäre mit 740 zusätzlichen Höhenmetern verbunden, weshalb Klaus und ich spontan von einer Besichtigung Abstand nehmen.

„Für an Ratscha bi i olm zan hom”, sagt Dominik Larcher, der gemeinsam mit Frau Michaela und Tochter Magdalena einen landwirtschaftlichen Betrieb mit 20 Milchkühen und 50 Stück Jungvieh in Bruck am Ziller bewirtschaftet und den Sommer über auf der Binsalm (1.502 m) verbringt, zu der ich mich inzwischen hochgeschleppt habe. 80 Personen können hier übernachten und es sich gutgehen lassen. Ich denke, daß Elke und mich im Laufe der kommenden Woche eine Wanderung nochmals hierher führen wird. Aber erst mal haben Klaus und ich bei 38,37 km noch deren knapp 14 zurückzulegen und machen uns daher bald wieder vom Acker. Allerdings dann doch getrennt, denn er will einen halben Zahn herausnehmen und vor meinem geistigen Auge schwebt noch immer eine 7 vor der Endzeit. Oh, ich Ahnungsloser!
 

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War es bisher nur schwierig gewesen, wird es jetzt abartig. Extrem steil geht es in der prallen Sonne auf ganz schmalem Pfad aufwärts. Schwerer und schwerer, langsamer und langsamer gehen die Schritte. Gelegentlich werde ich überholt, überhole aber auch selber. Ab und an sitzt jemand im Hang zum Ausruhen. Bilder vom K 78 hinauf zur Keschhütte erscheinen vor meinem geistigen Auge. Bauz, schon rutsche ich mit dem linken Bein ab und kann mich gerade noch so fangen, denn unter dem linken schmalen Grasstreifen war nur noch Luft. Keine Sekunde darf man sich ablenken lassen. Höher und höher geht es, ich weiß, es naht der im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt des Laufs. Ein Durchlaß auf dem Felsgrat erscheint, dem Gatterl beim ehemaligen Zugspitz-Extremberglauf ähnlich, dahinter geht es steil hinunter.

Endlich kann ich es rollen lassen. Dachte ich beim Studium des Höhenprofils, doch oh weh! Ein schmaler Weg mit ganz viel grobem Geröll führt über Serpentinen langsam, aber ganz steil hinab. Ich bin bestimmt kein Feigling, aber hier ist für mich nichts mit Laufen. Ganz langsam stakse, nein, eiere ich hinab, es ist ein Graus. Gut, daß ich mich nicht selber beobachten muß. Jetzt wären Stöcke ein Segen, um dem alleine durch die Erdanziehung bedingten Vorwärtsdrang Einhalt zu gebieten, aber Fehlanzeige. Ganz nach vorne gerutscht bin ich in meinen extra für diesen Lauf erworbenen, sündhaft teuren Tretern, die Zehen am Anschlag, festgekrampft an die Sohle und zu allem Überfluß noch einen spitzen Stein im linken Schuh, so versetze ich meinen Oberschenkeln mit jedem Schritt schwere Schläge und befürchte für den Folgetag das Schlimmste. Wie kann ein Mensch hier rennen? Offensichtlich sind nicht wenige dazu in der Lage. Als ich mich unbeobachtet fühle, schreie ich in meiner Hilflosigkeit meinen ohnmächtigen Zorn über meine eigene Unzulänglichkeit heraus.  Das ist AC/DC in Reinkultur. AC/DC? Klar, Alpen Cross Difficult Challange! Danke, Jörg Segger, der im kommenden Jahr einen Lauf von Sonthofen nach Riva plant, für diesen tollen Berichtstitel!
 

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Wider Erwarten hat auch diese Prüfung irgendwann einmal ein Ende, nach 41,52 km erreiche ich den Gramaialm-Hochleger auf 1.756 m, der hinter einer häßlichen Betonmauer verborgen ist, und kann damit schon fast einen weiteren Marathon auf der Habenseite verbuchen. Kurz vorher steht eine gute Seele und bietet mit zwei großen, wassergefüllten Kannen Erleichterung für die heißgelaufene Birne an. Angesichts meines Nasenfahrrads verzichte ich jedoch dankend, nehme die Gelegenheit aber gerne wahr und bade meine Laufkappe im kalten Wasser. Welch eine Wohltat! Der Gramaialm-Hochleger ist während der Almsaison bewirtschaftet und eignet sich für eine Einkehr, entnehme ich schon vorher dem WWW und werde vor Ort auch nicht enttäuscht: Man kredenzt uns wieder viele leckere Sachen. Ob es hier den Haferschleim gab, habe ich erfolgreich verdrängt, auf jeden Fall gibt es an der Versorgung insgesamt aber auch gar nichts zu meckern. Über 300 freiwillige Helfer bzw. die Einsatz-Organisationen sorgen  für einen reibungslosen Ablauf, wofür ihnen unser verschärfter Dank gebührt.

Wieder geht es brutal abwärts, stolze 500 HM verlieren wir auf den nächsten drei km auf unserem Weg zur Gramaialm (1.263 m), wo es nicht nur kulinarisch verflixt luxuriös zugeht: Von außen mit dem rustikal-romantischem Charme einer Almhütte gesegnet, bietet sie von innen, wie man lesen kann, den Wohnkomfort eines Hotels mit großzügiger Außensaunalandschaft und angrenzendem Almgarten inklusive Kneippanlage und Barfußweg. Nur gut, daß wir das nicht zu deutlich vor Augen geführt bekommen, womöglich hätte der eine oder andere hier bei 44,5 km nach Überschreitung der Marathondistanz erst einmal die Füße hochgelegt. „Noch 8,7 km“ liest es sich süß am Verpflegungsposten, so langsam wird es überschaubar. Ab hier könne man es rollen lassen, wenn man sich dafür sich die nötigen Körner bewahrt habe, schrieb Andreas im letztjährigen Bericht. Es geht zwar noch einigermaßen, aber rollen sieht definitiv anders aus. Wenigstens ist der Untergrund jetzt wieder eher nach meinem Geschmack.
 

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Weiter abwärts folgt nach gut zweieinhalb weiteren km die Falzturn-Alm auf 1.098 m. Dieses Alpengasthaus wurde bereits 1910 gebaut, war allerdings bis zum Winter 1972/1973 nur während der Sommermonate geöffnet. Schön anzuschauen ist die Bewahrung des „almerischen“ Charakters bei den diversen Umbauten. Schlappe fünf km trennen uns nur noch vom Ziel in Pertisau am Achensee, in den ich heute noch definitiv mit Hochgenuß versinken werde. Dieses bis zu 133 m tiefe Gewässer wird wegen der für Segler und Surfer optimalen Windverhältnisse gerne auch als „Tiroler Meer“ bezeichnet. Allerdings ist es saukalt, denn einem Gebirgssee entsprechend überschreitet die Wassertemperatur kaum jemals 20° C. Egal, wahrscheinlich steigt die Temperatur deutlich, sobald mein heißgelaufener Körper darin versinkt.
 

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Dann sind die ersten Häuser von Pertisau, dem touristischen Zentrum am Achensee auf 932 m Seehöhe (die hier übrigens die Adria vorgibt) zu sehen. Der 600-Seelen-Ort, im 14. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, ist auch Ausgangs- und Zielpunkt der seit 1887 betriebenen Achensee-Schiffahrt; die Endstation der im Sommer als dampfbetriebene Touristenbahn verkehrenden Achenseebahn (seit 1889) liegt 2 Kilometer südlich von Pertisau. Der See ist Quell des Flüßchens Ache, das, auf bayrischer Seite Walchen benannt, in den Sylvenstausee und damit in die Isar fließt. Das alles jedoch interessiert mich augenblicklich nur peripher, ich will nur noch ins Ziel. Ja, hätte ich nicht mehrere Pinkelpausen gemacht, Zeit an den Labestationen vertrödelt, das Steinchen aus dem Schuh umständlich entfernen müssen, hätte es mit der sub 8 noch etwas werden können. Egal, ich sehe Elke und Barbara aufgeregt winken und weiß, daß ich es jetzt, eine Minute und achtzehn Sekunden länger als beabsichtigt, geschafft habe.

Völlig geschafft nehme ich die schöne Medaille entgegen, entledige mich genußvoll sämtlicher Fußbekleidung und humpele ins Verpflegungszelt, wo ich mir, es dem Andreas vom Vorjahr gleichmachend, erst einmal vier Halbe reinziehe. Bleifrei, Gott sei Dank, sonst hätten sie mich in der Schubkarre ins unmittelbar gegenüberliegende Hotel fahren können. Eine Viertelstunde später ist zu meiner Beruhigung auch der Klaus da und wir sind uns in unserer Bewertung sofort einig: So etwas werden wir im Leben nie wieder machen! Nach dem Cooldown am Folgetag, der uns von der Bergstation der Karwendelbahn zu Fuß zum Bärenkopf bringt (6 km hin und zurück, 650 Höhenmeter, ein Muß mit dem ultimativen Blick über Pertisau und den Achensee), was überraschenderweise ohne allzu große Beschwerden gelingt, werden die eben genannten Vorsätze, wunderbar in der Bärenbadalm in der Sonne sitzend und einen herrlichen Kaiserschmarrn verdrückend, natürlich umgehend wieder über Bord geworfen. Geil war's! Scheiße anstrengend, aber ein grandioser Lauf/Marsch in atemberaubender Landschaft bei unvergleichlich gutem Wetter.
 

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Die Sieger nehmen übrigens nicht nur Ruhm, Ehre und Preise mit nach Hause, nein, auch eine kleine Verpflichtung: Denn der Naturpark steht bereits im Frühsommer im Zeichen des Karwendelmarschs – als liebgewonnene Tradition und kleines „Dankeschön“ an die Natur pflanzen die Sieger einen jungen Bergahorn und werden so zu Botschaftern des Bergahorn-Schutzprogrammes.

Wir bleiben noch ein paar Tage hier, denn zu sehen und per Rad bzw. Pedes zu erobern gibt es genug: Drei bewaldete Täler und Almen (Gerntal mit Pletzachalm und Gernalm, Tristenautal sowie Falzthurntal mit Falzthurnalm und Gramaialm) reichen nur sanft ansteigend weit in das Gebirge hinein. Die Talschlüsse bilden steil aufragende Zweitausender wie Sonnjoch, Lamsenspitze, Dristenkopf und Rappenspitze. Uns wird also in der kommenden Woche nicht langweilig werden und zum Wochenende erwartet uns und Euch ein weiterer Höhepunkt. Um es mit dem Terminator zu sagen: I’ll be back!

Diesen Bericht gibt es auch mit noch viel mehr Fotos auf trailrunning.de!

Streckenbeschreibung:
Punkt-zu-Punkt-Kurs über 52 km mit 2.281 Höhenmetern, Ausschilderung alle 5 km. Einwegchip in der Startnummer. Zeitlimit 14 (!) Stunden.

Startgebühr:
45 bis 55 € (bei Nachmeldung).

Weitere Veranstaltungen:
35 km Lauf, Walking und Wandern (Zeitlimit 11 Stunden).

Leistungen/Auszeichnung:
Urkunde, Medaille

Logistik:
Gepäcktransport zum Ziel

Verpflegung:
10 Verpflegungsstationen

Zuschauer:
Außer im Ziel nur versprengte Wanderer (ohne Startnummer!) und Mountainbiker
 

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