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2. Kasan-Marathon am 15.05.2016
 

Kazan-Marathon: Wolfgang, dawai!

Oh Kazan! Du bist wie ein Licht,
das nachts auf einem Berg leuchtet,
wie Kerzen gehen Deine Minarette auf,
Deine Glocken- und Wachttürme!
Du scheinst hell auf Deine Distrikte,
Provinzen und entfernten Lande,
Du steigst stolz empor,
Du zeigst uns den Weg!

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Gabdoullah Tukay, 1886 – 1913 in Kasan (berühmter tatarischer Poet)

Ich laufe und staune Bauklötze. Eine fremde Welt tut sich vor mir auf, wie ich sie bisher nur von Bildern her kannte. Sehe eine historische Zitadelle, imposante Türme, Tore, christliche Kathedralen, Moscheen, imposante Gebäude, darunter das Rathaus, davor ein Standbild, dessen Gesicht auch bei uns fast jeder kennt: Wladimir Iljitsch Uljanov, genannt Lenin. Vor dem hiesigen Kreml, der zahlreiche dieser sowie andere Bauwerke beherbergt und seit dem Jahr 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt, fließt ein großes Gewässer. Es wird niemanden mehr überraschen zu lesen, daß dies der russische Fluß schlechthin ist, nämlich die bzw. ein Teil der Wolga. Ich befinde mich daher also nicht in Moskau, sondern sogar noch weiter im Osten. Kasan (bzw. Kazan auf Russisch) heißt die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan, 800 km ostwärts der russischen Zentrale.
 

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Es ist im Mai 2013, fast auf den Tag genau vor drei Jahren, als ich auf den Straßen Prags sehr persönliche Spuren meiner Vergangenheit erkunde und diese phantastische Stadt, die unter anderen Umständen meine Heimatstadt hätte sein können, im Rahmen des Marathons und außerhalb dessen schätzen lerne. Auch begegne ich hier einem jungen Russen, der seinen ersten Marathon läuft und, eine hervorragende 3:06 vor Augen, zweihundert Meter vor dem Ziel zusammenbricht. Im Krankenhaus päppelt man ihn auf und entläßt ihn mit unverändert umgebundener Startnummer wieder im Zielbereich seinem Schicksal. Genau das nimmt er in beide Hände und die noch fehlenden 200 m unter die Füße. Resultat: Marathon erfolgreich beendet, und das noch unter fünf Stunden!

So jemand muß zu Höherem berufen sein. Da Vadim in seiner Heimat inzwischen als Renndirektor fungiert, fragt er an, ob ich nach Kasan kommen und über den Marathon berichten wolle. Ich will, lasse eine zunächst leicht angesäuerte Gattin über Pfingsten alleine zurück und mache mich für vier Tage auf die Socken. Für das unabdingbar notwendige Visum, auf das ich zwei Wochen warten muß, sind 62 € fällig. Um die Flugkosten niedrig zu halten, nehme ich am Donnerstagabend von Frankfurt aus den Umweg über Riga/Lettland in Kauf. Im Flieger treffe ich völlig überraschend auf weitere unverkennbare Marathonläufer und sehe direkt meine Exklusivität bzgl. Kasan bedroht. Beim Durchblättern der Bordlektüre finde ich Werbung für den Marathon in Riga, der just am gleichen Wochenende stattfindet, und schon ist meine Welt wieder in Ordnung. Aber meine to-do-Liste hat mal wieder Zuwachs bekommen, es ist ein Graus. Vor allem für meine Gattin.

Nach weiteren zwei Stunden Flugzeit komme ich in Moskau an, um mir dann auf dem dortigen Flughafen die Nacht um die Ohren zu schlagen. Am Freitagmorgen geht es endlich weiter und anderthalb Stunden später bin ich nach insgesamt elf Stunden inkl. Wartezeit endlich in Kasan angekommen. Der offensichtlich betrunkene junge Mann, der unterwegs ständig die Stewardessen genervt und sich ihren Anweisungen widersetzt hat, wird direkt von der Polizei einkassiert. Schon ist mir das Land sympathisch. Die Uhr habe ich schon in Riga nur eine Stunde vorstellen müssen, trotz der großen Entfernung muß ich erfreulicherweise also keinen Jetlag befürchten. Zur Orientierung: Kasan liegt etwa auf Höhe der Grenze zwischen Litauen und Lettland sowie nördlich des Kaspischen Meeres und Iran. Und damit trotzdem immer noch ziemlich im Westen dieses unvorstellbar großen Landes. 1.000 Jahre alt ist Kasan heute mit knapp 1,2 Millionen Einwohnern die achtgrößte und hinter Moskau und St. Petersburg drittbedeutendste russische Stadt.

Einen ersten Eindruck von ihr erhalte ich auf der Fahrt zum Hotel. Vadim II, der wichtigste Mitarbeiter von Vadim, dem Chef, hat mich als very impotent person freundlicherweise abgeholt. „Das größte Problem bei uns ist der schlechte Zustand der Straßen“, sagt er, während wir gute 25 km über hochglanzpolierten Asphalt zurücklegen. Na ja, erklärt er grinsend, das habe man anläßlich einer großen Sportveranstaltung vor drei Jahren getan, aber ansonsten sei das schon so. Etwa zwanzig Universitäten beherbergt die Stadt (wobei der Begriff „Universität“ nicht abschließend definiert ist), 200.000 Studenten aus 67 Ländern sind hier zeitweilig zuhause. Auch Lenin wurde hier in Rechtswissenschaften ausgebildet, wie schon sein Vater in Kasan Mathematik und Physik studiert hatte.

In Russlands inoffizieller Sporthauptstadt wurde 2013 die Universiade (der Anlaß für den traumhaften Straßenzustand), die Weltsportspiele der Studenten, ausgetragen. Mehr als 9.000 Sportler aus 162 Ländern kämpften dabei um Medaillen. Im vergangenen Jahr veranstaltete man die Schwimmweltmeisterschaften und in zwei Jahren wird Kasan eine Gastgeberstadt der Fußballweltmeisterschaft sein. Gespielt werden wird in der 450 Millionen $ teuren, nach dreijähriger Bauzeit 2013 eingeweihten Kazan Arena, die für rund 45.000  Zuschauer ausgelegt ist. A propos Fußball: Der eine oder andere Kundige wird schon mal vom FK Rubin Kasan gehört haben. Der Erstligist (seit 2003) ist zweimaliger russischer Meister (2008 und 2009) und Pokalsieger (2012); er spielte sowohl in der Euro als auch der Champions League. Der 1:2-Auswärtssieg beim damaligen Titelverteidiger FC Barcelona unter Pep Guardiola und mit den Spielern Messi und Ibrahimovic im Oktober 2009 gilt als einer der größten Erfolge der Vereinsgeschichte. Daneben spielen Basketball-, Eishockey- und Volleyballvereine in den obersten Ligen.

Am Freitag und Samstag ist die Marathonmesse jeweils zwischen 10 und 20 Uhr geöffnet, der Empfang der Startnummer am Lauftag nicht möglich. Ich bin noch am gleichen Tag vor Ort, freue mich, auch Vadim I zu treffen, und überlasse beide dem ganz normalen Wahnsinn der vielbeschäftigten Hauptverantwortlichen. Die Ausstellung ist überschaubar, bietet aber alles Erforderliche und einiges darüber hinaus. Die Gravur von Namen und Laufzeit auf die Medaille kostet nur 200 Rubel (3 €). Zur Pastaparty bin ich tags darauf nochmal da, die Buslinien 10 und 35 fahren für 25 Rubel (0,35 €) zum Prospekt Yamasheva bzw. Gavrilova direkt vor die Arena. Die Spaghetti sind, inkl. des Ketchups, vollständig geschmacksneutral, erfüllen aber hoffentlich ihren Zweck. Was soll's – immerhin gibt es etwas zwischen die Zähne und das inkl. Getränk für lau. Die Stadtbesichtigung an beiden Vortagen mit angesichts des Laufs natürlich viel zu vielen zu Fuß zurückgelegten km zeigt eine von mir so nie erwartete hochattraktive, gepflegte Kommune mit herrlicher Natur, freundlichen Menschen und hervorragendem Nahverkehr, egal ob per Bus, Straßenbahn oder Metro. Wenn das typisch für Rußland ist, selbst wenn nicht, hat sich mein Bild über dieses Land völlig geändert. (Marathon)Reisen bildet eben.
 

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Der Start erfolgt am Sonntagmorgen vor der Kazan Arena am Ufer des Flusses Kazanka, wo sich auch das spätere Ziel befindet. Ich bin rechtzeitig da, um nach einer Sicherheitskontrolle wie am Flughafen den gesamten Vorlauf inkl. des ersten Wettbewerbs, des 3 km-Laufs rund um die Arena, mitzuerleben. Das alles wird mit großem Brimborium zelebriert, denn heute ist ein ganz besonderer Tag: Der Präsident höchstselbst ist am Start. Nein, nicht Vladimir Putin, aber immerhin der Präsident der tatarischen Republik, Rustam Minnikhanov, der es sich nicht nehmen läßt, mit gutem Beispiel voranzugehen, und das als Nichtläufer! Und hierin steckt auch das Potential dieses Laufs: Hier steht nicht nur die Stadt und das Sportministerium hinter der Idee eines Marathonwochenendes in Kasan, nein, der Präsident persönlich steht dahinter und hat sehr klare Vorstellungen über die weitere Entwicklung der Veranstaltung: Die Zielvorgabe für das kommende Jahr ist nicht weniger als eine Verdreifachung der diesjährigen Teilnehmerzahlen (7.076, bei 8.819 Meldungen) auf 20.000. Nach allem, was ich hier gesehen und gehört habe, halte ich das nicht für völlig abwegig.
 

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Um 9:44:41 Uhr werden die Elitefrauen auf den Marathonkurs gelassen, wohlgemerkt alleine. Der Grund dafür, erklärt mir Vadim II, liegt in einer witzigen Idee: Im vergangenen Jahr lagen die Siegerzeiten der Männer und Frauen um exakt 15:19 min. auseinander. Daher werden die Damen in exakt diesem Abstand früher gestartet, und der oder die Gesamterste bekommt ein Extra-Preisgeld. Die Dame in Person von Tatjana Prusova wird sich tatsächlich mit einem Vorsprung von sagenhaften acht Sekunden durchsetzen und dafür stolze 500.000 Rubel (6.800 €) kassieren. Um 10 Uhr – aus meiner Sicht die optimale Startzeit - darf dann der gesamte Rest der Langstreckenläufer inkl. der Zehner auf die Piste, so kommt ein sehr ansehnliches Feld zusammen. Nach 216 Marathonern und 296 Halblingen 2015 werden heute 1.010 bzw. 1.669 Läuferinnen und Läufer im Ziel sein, die Teilnehmerzahl hat sich also in beiden Langdistanzen gegenüber dem Erstversuch mehr als vervier- bzw. -fünffacht. Allerdings hält sich die internationale Beteiligung mit 1,6 % im Marathon immer noch in Grenzen. Bisher war der Lauf eine rein russische Angelegenheit, daher möchte Wolfgang Rudolfowitsch heute schnellster Deutscher aller Zeiten werden. Das klappt leider nicht ganz, aber der zweite Platz in der Nationenwertung ist doch auch nicht schlecht. Wo ich gerade schnell sage: Der Median beim Marathon der Männer lag 2015 bei an unseren Maßstäben gemessen ungewöhnlich flotten 3:24:09 Std. (Halbmarathon 1:50:49 Std.), was angesichts der überwiegend jungen bis sehr jungen Starter allerdings kaum verwundert. Heute wird er auf immer noch nicht langsame 3:58:12 fallen.
 

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Auf dem breiten Parkplatz verläuft sich die große Masse schnell, ohne den bei vielen anderen Veranstaltungen üblichen Stau zu bilden. Ich stehe im letzten Block D, in dem die Krücken mit Laufzeiten über vier Stunden zuhause sind; hier geht's echt flott zu! Wir verlassen das Gelände, nachdem uns eine Percussionband eingeheizt hat, und beginnen den Lauf auf einer breiten, zweispurigen und Gott sei Dank für den Autoverkehr gesperrten Straße. Kaum aus dem Stadion gekommen, steht schon die erste Band und spielt auf, was das Zeug hält. Leider wird sie die einzige bleiben. Nach Überquerung eines Kreisverkehrs grüßen rechts verschiedene, erst im letzten Jahr fertiggestellte Hochhäuser. Woher ich das weiß? Auf dem letztjährigen Laufvideo eines russischen Teilnehmers befanden sich einige davon noch im Bau. In einem markanten Gebäude zur Linken, dem „Palast des Wassersports“, spiegelt sich die morgendliche Sonne und gibt bereits einen Vorgeschmack auf die heutigen (für mich) insgesamt guten Wetterbedingungen: 14° als Tageshöchsttemperatur, eitel Sonnenschein und kaum Wolken. Dafür muß man die Perücke festhalten, so sehr stürmt es. Der Wind ist wirklich heftig wie an der Nordsee und wird im Tagesverlauf auch um keinen Deut abnehmen. Rechts grüßt das Hotel Riviera mit u.a. einer riesigen Wasserrutsche; die zahlreichen Badebecken auf der für uns falschen Seite sind nicht einsehbar.

Weiter auf breiter Fahrstraße kommen wir zügig durch einen Außenbezirk, links und rechts stehen moderne mehrstöckige Wohngebäude. Linkerhand tut sich mit dem X-Fit Ak Bars der geräumigste Fitness-Club Kasans mit einer Fläche von 4.000 m² und  mannigfaltigen Sportmöglichkeiten auf. Nach kaum zwei km trennen sich die Strecken: Die Zehner laufen geradeaus, alle anderen nach links. Zumindest theoretisch, denn etliche 10 km-Läufer haben die an sich deutlichen Hinweisschilder übersehen und rennen mit uns auf die Brücke. Bestimmt zwanzig, die ihren Irrtum irgendwann bemerken, kommen mir wieder entgegen.
 

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Schon von weitem hat man die große, 835 m lange Millenniumbrücke (Most Millennium) über den Fluß Kazanka, deren Mittelträger als großes „M“ die zweimal drei Fahrspuren (plus Fußgängerspuren) überspannt, erkennen können. Übrigens bedeutet Most wie im Tschechischen auch im Russischen „Brücke“ und hat nicht im Ansatz etwas mit den uns unter diesem Namen leckeren Getränken zu tun, eigentlich schade. Die erste Schwammstation zu Beginn der Brücke lasse ich aus. Mental durchaus herausfordernd kann ich sehr weit nach vorne sehen, die für uns einseitig für den Autoverkehr (Linienbusse ausgenommen) gesperrte Straße ist schnurgerade, dem Auge wird wenig Abwechslung geboten. Allerdings sind das Wasser und die Innenstadt jederzeit im Blickfeld. Was mir äußerst positiv ins Auge sticht, ist der gute Zustand des Straßenbelags, da wird einem ja zuhause mittlerweile einiges zugemutet.

Langsam beginnt sich die Szenerie zu beleben, die Bebauung wird dichter. Rechts und links von uns hinter langgezogenen Mauern aus roten Ziegeln liegt mit dem heutigen Gorky Park ein für die Stadt besonderes historisches Areal: 1552 diente es als Truppenlager der Tataren während der letztlich verlorenen Kämpfe gegen die russischen Eroberer unter dem Zaren Iwan des Schrecklichen, der damit das Ende des Khanats von Kasan besiegelte. Dieses war ein mittelalterlicher bulgarisch-tatarisch-türkischer Staat gewesen, das Gebiet der ehemaligen Wolgabulgaren, die einst von einem Enkel Dschingis Khans beherrscht worden waren. Seine Hauptstadt war die Stadt Kasan gewesen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der nahe gelegene Wald zu einer Parklandschaft umgewandelt, deren beide Hälften im Volksmund „Russische Schweiz“ und „Deutsche Schweiz“ genannt und während der Sowjetzeit zum Gorky Park zusammengelegt wurden. Dort, am Brückenende, gibt es nach 5 km zum ersten Mal Verpflegung: Wir erhalten Wasser, Iso, Bananen- und Orangenstücke.

Zur linken Seite kommt ein älteres, durchaus attraktives Gebäude, zur rechten mit dem „Korston“ (in lateinischen Buchstaben) mein derzeitiges Zuhause, ein Ensemble bestehend aus Kinocenter, Fünf-Sterne-Hotel mit Einkaufszentrum und integriertem original russischem Schnellrestaurant McDonaldinsky, dahinter ein flacheres Gebäude mit der Bezeichnung „World Trade Center“. Dieses stellt seine Infrastruktur und Dienstleistungen der Wirtschaft und Behörden in der Hoffnung auf gute Abschlüsse zur Verfügung. Die zwei folgenden gläsernen Pyramiden dienen wohl der Beleuchtung einer unterirdischen Einrichtung des Komplexes. Erinnerungen an meine Kindheit kommen beim Blick in den Himmel auf: Elektrische Oberleitungen für Nahverkehrsbusse, wie einst in meiner Geburtsstadt Koblenz, zeugen – ja, von was eigentlich? Ich entscheide mich, das angesichts in schwarze Rußwolken gehüllter älterer Busse nicht als Symbol der Vergangenheit, sondern als (wieder) fortschrittlich anzusehen.
 

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Wenige hundert Meter später erkenne ich zum ersten Mal an der Strecke, daß ich weit weg von zuhause bin: die erste russisch-orthodoxe Kirche mit für unsere Augen ungewohntem Baustil, der Hl. Barbara geweiht, eignet sich vorzüglich als hübsches Fotoobjekt. Links und rechts kommen jetzt erste, sehr gepflegte Gebäude in verschiedenen Stilrichtungen, die mir sehr zusagen. Im Gegensatz zu letztem Jahr leitet man uns von der Haupt-Durchgangsstraße, der Karl-Marx-Straße, an einem kleinen Park nach rechts und wieder links auf eine Parallelstraße. Vadim II bestätigt später meine Vermutung, daß die Stadtverwaltung von der Idee, diese stark genutzte Verkehrsader wieder für Stunden zu sperren, weniger angetan war.

Immer weiter geradeaus geht es bei km 7 am Rathaus mit der Lenin-Statue und der gegenüberliegenden tatarischen Oper vorbei. Sehr ordentliche, nett anzusehende Häuser begleiten unseren weiteren Weg in die Innenstadt, selten haben sie mehr als drei Stockwerke. Platzmangel ist in diesem riesigen Land offensichtlich nicht das vorherrschende Problem. Rechts stehen wieder zwei der so typischen Kirchen mit kleinen, runden goldenen Turmspitzen und grünen bzw. blauen Dächern, ich bin begeistert. Jetzt wird es für mich besonders hübsch (wobei ich die vor uns liegende Hauptattraktion zu diesem Zeitpunkt noch verschweige): Nicht nur, daß wir wieder auf die Kazanka zulaufen, rechterhand liegt ein flacher, attraktiver Gebäudekomplex, vermutlich mit Restaurants und weiteren Freizeiteinrichtungen. Die nach rechts führende, breite Flaniermeile, die eine etwa 3 km lange Begegnungsstrecke einläutet, gestattet weiter zügiges Ausschreiten - sofern man dazu in der Lage ist. Sie ist der Beginn einer erst vor wenigen Jahren begonnenen, im Endausbau mehrere km langen Uferpromenade, welche die Stadt weiter erheblich aufwerten wird. Eines ist also jetzt schon klar: Stimmt am Ende die geplante Laufzeit nicht, hat es ganz bestimmt nicht an mangelndem Platz gelegen. Eine breite Freitreppe führt zu einem roten, kantigen Gebäudekomplex, dem nationalen Kulturzentrum Kasans hinauf, vor dem ich wieder eine engelähnlich in der Sonne glänzende Statue auf der Spitze eines schmalen Turmes erkennen kann. Die Wende erfolgt nach exakt 10 km, hier wird erneut verpflegt.
 

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Für mich sehr schön geht der Rückweg erneut lange unmittelbar an der Kazanka entlang. Die bereits installierten Springbrunnen nutzen viele Laufkameraden zur Erfrischung, trotz des stürmischen Windes brennt die Sonne ordentlich vom blauen Himmel herab. Den Boulevard verlassend, kommen wir auf den Abschnitt zu (jetzt ist es heraus), auf den ich mich am meisten freue und der mich, als ich mir die ersten Fotos im Internet über Kasan ansah, spontan begeistert hatte: Den Kasaner Kreml. Alleine der ist schon die Reise wert, so zahlreiche unterschiedliche und optisch herausragende Architektur auf vergleichsweise kleinem Platz beeindruckt mich völlig. Was an anderen Stellen leider nicht gelingt, ist hier normal, nämlich das friedliche, unkomplizierte Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse („Eine Stadt – zwei Religionen“). So stehen mit der Maria-Verkündigungs-Kathedrale und der farbenfrohen, erst 2005 errichteten Kul-Sharif-Moschee, der zweitgrößten Europas, zwei Gotteshäuser fast unmittelbar nebeneinander. Kaum vorstellbar, daß es hier wie bei uns auch Haßprediger gibt. Denen zeigt man wohl den (Pierre) Vogel. Oder buchtet sie direkt ein. Leider stehen heute allerdings längst nicht mehr alle Gebäude, denn zahlreiche architektonische Denkmäler, wie die Kathedrale des Hl. Nikolaus und die Preobraschenski-Kathedrale, beide aus dem 16. Jahrhundert, oder der Glockenturm der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, wurden in den dreißiger Jahren von den Bolschewiken zerstört.

Aber auch diese optische Herrlichkeit ist irgendwann einmal zu Ende, schade. Aber es gibt ja auf der zweiten Runde noch einmal die Gelegenheit, bisher Übersehenes zu entdecken. Und überhaupt verbietet es sich geradezu, nur wegen des Marathons in diese schöne Stadt zu kommen. Ein paar Tage sollte man sich, wie auch ich, wirklich für Besichtigungen Zeit nehmen, es lohnt sich. Am Ende des Kremls bei km 13, vorbei an einer ihm gegenüberliegenden Pyramide aus Glas und Stahl, bekommen wir leider nicht die seit dem 15. Jahrhundert bestehende Uliza Baumana, die tolle Fußgängerzone Kasans, zu sehen, ein echtes Manko. Sie ist mit bunten Ziegelsteinen gepflastert; rechts und links laden Bänke, Laternen und zahlreiche Linden zum Flanieren ein. Verschiedene Veranstaltungen und festliche Präsentationen finden auf der nach dem 1873 in Kasan geborenen Nikolay Bauman, einem russischen Revolutionär, benannten Straße statt. Die nach dem Ende der Sowjetzeit wiederhergestellte russisch-orthodoxe Offenbarungskirche ist einer ihrer Höhepunkte. Sie endet am Tukay Platz (Ihr erinnert Euch an den Dichter von oben?), den zentralen Platz der Stadt. Davon bekommen wir leider nichts mit. Vielleicht im nächsten Jahr?

Nächstes Zwischenziel ist, einer riesigen Suppenschüssel mit Deckel oder gar einem UFO ähnlich, der Kasaner Zirkus, hinter ihm liegt das 1960 eröffnete Zentralstadion. Auf einer breiten Ausfallstraße wird die Szenerie wieder trister, dafür bleibt uns aber die Wassernähe erhalten. Links kann ich das Riesenrad des Vergnügungsparks Kyrlay erkennen, rechts eine schwarze Schüssel auf Stelzen, das „Familienzentrum Kazan“. Dieses umrunden die 10 km-Läufer als Wende komplett. Es ist ein beliebter Ort zum Heiraten und bietet einen schönen Blick auf die Altstadt. Am Ende gibt es als Verpflegung angeblich Flügel verleihende bunte Brause aus Österreich. Nach 17 km wird die Bebauung wieder dichter, linkerhand stehen zahlreiche funktionale, mehrstöckige Gebäude, darunter die Tatneft Arena. 10.000 Zuschauer faßt das Heimstadion des Eishockeyvereins Ak Bars Kasan, seit 2008 Mitglied der Kontinentalen Eishockeyliga und russischer Meister der Jahre 1998 und 2006. Auf der rechten Straßenseite kommen mir wesentlich schnellere Marathoner entgegen, die zu diesem Zeitpunkt gegen sechs km voraus liegen.
 

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Mittlerweile ist an den Versorgungsstationen schon lange Hektik ausgebrochen. Der Wind macht es unmöglich, viele Becher vorzubereiten, denn er haut alles sofort wieder um. Also wird bedarfsgerecht ausgeschüttet, viel auch verschüttet, was wiederum an einigen wenigen Stellen zu akutem Wassernotstand führt. Ein wenig Wartezeit muß man jetzt auch in Kauf nehmen, aber die Helfer rackern sich ab, so gut sie können. Wenig später leuchtet uns Bekanntes voraus: Die Kazan-Arena, Start und Ziel des heutigen Laufs wird noch fast komplett umrundet. Mich begeistert ein 10 km-“Läufer“, der, offensichtlich von einem Schlaganfall gezeichnet, sich am Stock über die Strecke quält. Großer Sport, Respekt! An der Hauptzufahrt begleite ich die Halblinge rechts auf ihren letzten Metern. Sie sind rechts unter dem Zielbogen mit ihrem Lauf fertig, uns Marathonern gönnt man auf der linken Seite noch eine zweite Runde, die ich auch sofort in Angriff nehme. Der Sturm hat mittlerweile den halben Einlaufkanal zerlegt, fast alle Barrieren liegen auf der Seite.

Wie immer im entfernteren Ausland bin ich auch heute im Nationaltrikot unterwegs und trage die deutschen Farben in die Welt hinaus. Gefühlt tief im Osten und fern der Heimat, hat das Deutschtum aber eine lange Tradition in dieser Stadt. 1767 begann der Bau der lutherischen St. Katharina-Kirche, in und um die sich das Leben ausgewanderter Rußlanddeutscher in Kasan abspielte. Seit 1806 besteht die hiesige evangelisch-lutherische Kirchengemeinde, die von 1904 bis 1906 1.075 Deutsche zählte. In ihr fanden allerdings nicht nur Gottesdienste statt, sondern es existierten auch ein deutscher Chor, eine Theatergruppe und sogar Grundschulunterricht wurde durchgeführt. Der Erste Weltkrieg machte dem Gemeindeleben vorerst ein Ende und konnte nur mit Hilfe von Spenden wohlhabender Gemeindemitglieder aufrechterhalten werden. Während der Oktoberrevolution wurden viele Deutsche enteignet, getötet oder sie wanderten aus. Im Jahre 1929 löste sich die Gemeinde auf und die Räumlichkeiten gingen über an das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der Republik Tatarstan. Fortan wurden sie als Sportsaal genutzt.

Erst am 4. November 1990 wurde die Deutsche Lutherische Gemeinde neu gegründet und schloss sich mit der Kasaner Deutschen Gemeinschaft zusammen, um das kulturelle Leben der Russlanddeutschen Kasans wieder aufleben zu lassen. Dennoch wurden die Räume der St.-Katharina-Kirche erst am 11. Dezember des Jahres 1996 zurückgegeben. Mit der Kirche eng verbunden ist das in ihren Räumlichkeiten seit 2000 existierende Deutsche Haus der Republik Tatarstan. Es beschäftigt sich mit der Geschichte und dem Erhalt der deutschen Kultur sowie deren Vermittlung über Sprachgrenzen hinaus. Das Deutsche Haus dient zur zentralen Koordination der deutsch-russischen Beziehungen für die Regionen Wolga und Ural. Des weiteren gibt es mit der „Perlenkette“ einen mit dem Deutschen Haus verbundenen Jugendklub. Das Deutsche Haus fungiert im Rahmen des Bildungs- und Informationszentrums in Moskau und koordiniert Bildungsveranstaltungen wie zum Beispiel deutsche Sprachkurse, Vorträge zur Heimatkunde und Geschichte, Jugendarbeit sowie Publikationen und Wohltätigkeitskonzerte, Theater- und Tanzveranstaltungen. Seit September 2014 gibt es in der Stadt sogar eine deutsch-russische Universität.

Und das ist nicht die einzige historische Verbindung Deutschlands zu Kasan: Im Rahmen der deutsch-sowjetischen Militärkooperation gemäß dem Vertrag von Rapallo erprobte die deutsche Reichswehr (Inspektion 6 Kraftfahrwesen) zusammen mit der Roten Armee von 1926 bis 1933 im Geheimen in der nahegelegenen Panzerschule Kama Panzer, bildete an ihnen aus und entwickelte neue Panzertaktiken. Unter anderem wurde dort der „Großtraktor“ umfangreichen Tests unterzogen. Die Übungen bildeten den Grundstein für das später erfolgreich angewandte Blitzkrieg-Konzept. Mit der Machtübernahme der nationalsozialistischen Regierung endete die Zusammenarbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand in der Stadt ein Lager für deutsche Kriegsgefangene.
 

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Kaum aus dem Stadion heraus, rockt die einzige Band des Tages auch nach inzwischen mehr als zwei Stunden immer noch unverdrossen. „I'm your Venus, I'm your fire, short desire!“ schmettert die Sängerin. Recht hat sie, das Verlangen ist von nur kurzer Dauer, denn ich muß weiter, noch liegen zwanzig km vor mir. Die kennt Ihr mittlerweile und wenn nicht, schaut Euch nochmal die Bilder an oder lest von vorne. Mir geht es unverändert gut. Natürlich laufe ich nicht auf der letzten Rille, aber auch wenn man nur 90% gibt, bleibt das lange Laufen im stürmischen Wind eine Herausforderung. Auf der Most Millennium büße ich dann doch meine Kappe ein, die mich seit 2005 im ferneren Ausland begleitet, aber ein Passant auf der Fußgängerspur rettet sie gerade noch vorm Versinken in der Kazanka.

Etliche Teilnehmer sind mit einem speziellen T-Shirt unterwegs, das auf das Motto und besondere Anliegen des Laufs hinweist: Den Kampf gegen AIDS. „Test yourself“ heißt es in perfektem Russisch. Da die Zahl gemeldeter Fälle HIV-infizierter Menschen in Rußland mittlerweile nach Aussage entsprechender Organisationen „einen wirklich kritischen Punkt erreicht“ hat, dient der heutige Tag dem Kampf gegen zu geringes Bewußtsein, veraltete Ansichten der Menschen über die Art und Weise der Verbreitung sowie der Steigerung der Bekanntheit vorbeugender Maßnahmen und macht Werbung für AIDS-Tests.

Die Zahl der Geher und Dehner nimmt im weiteren Verlauf deutlich zu, nicht wenige werden das Ziel gar nicht oder nicht zeitgerecht erreichen. Mindestens dreihundert für den Marathon Gemeldete geben auf oder sind erst gar nicht angetreten. Mitten auf der Brücke erkenne ich, vorhin übersehen, tief unter mir zahlreiche Läufer am Wendepunkt auf der Uferpromenade, von dem mich noch fast acht km trennen. Erfreulicherweise kann ich mein Tempo beibehalten, wodurch ich einen ganzen Teil der Mitstreiter einsammeln kann, das ist ja immer ganz nett für die Psyche. Als sehr schön empfinde ich jetzt auch die mehrfach gehörte Anfeuerung „Wolfgang, dawai!“ (etwa: Auf geht’s!). Ja, ich mache doch, was ich kann! Noch dreihundert Meter trennen mich schließlich vom Ziel, da mache ich dann doch das, von dem mir Wohlmeinende abgeraten haben: Ich zücke aus meinem Geheimversteck die Bundesdienstflagge und laufe unter gleichermaßen erheblichem wie freundlichem Beifall der verbliebenen Zuschauer und zur Freude zahlreicher Fotografen schwarz-rot-gold strahlend ins Ziel. Als Zielverpflegung sehe ich nur Wasser, aber das ist mir jetzt auch egal. Wäre ich der russischen Sprache mächtig gewesen, hätte ich die großzügige Zielverpflegung auch als solche erkennen können, aber das kann ich verschmerzen. Dafür nutze ich die Zeit, ein wenig in mich zu gehen.
 

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Zieleinlauf

Was habe ich auf dieser Reise wieder einmal gelernt? Sport ist in der Tat völkerverbindend, Politik tritt dabei völlig in den Hintergrund, Vorurteile lösen sich beim gemeinsamen Schweißvergießen in Wohlgefallen auf. Man muß es wirklich am eigenen Leib erfahren: Auch wenn wir das, was wir einander in unseren verschiedenen Sprachen sagen, nicht übersetzen können, verstehen wir uns doch. Denn die gemeinsame Sprache des Sports, den gegenseitigen Respekt vor der Leistung des anderen, verstehen alle. So verwundert es mich im Nachhinein nicht, daß ich mich nach dem Lauf mit einem im Kampfanzug uniformierten und mit der Fahne seines Truppenteils laufenden russischen Fallschirmjäger verbrüdere und wir gemeinsam Arm in Arm für seine Deutsch sprechenden Eltern posen. Keiner hat das, gerade im ja nicht unkomplizierten deutsch-russischen Miteinander, in letzter Zeit so schön auf den Punkt gebracht wie die kölsche Band Brings in ihrem Lied „Polka, Polka, Polka“, dem Abräumer bei jeder Karnevalsfeier:

Mer han su viel durchjemaht,
jetz mache mer uns grad.
Un steht die Welt in Flamme,
mer ston all zusamme.
Ejal woher mer kumme,
jetz han mer uns jefunge.


Polka, Polka, Polka
vom Rhing (Rhein) bis an die Wolga.
Polka, Polka, Polka
der Pitter un die Olga.
Kabänes oder Vodka,
Polka, Polka, Polka
alles halv su schlimm,
wenn mer zusamme sin.

Es würde mich nicht wundern, wenn diese Veranstaltung innerhalb kürzester Zeit zu einer großen Nummer im Marathongeschäft würde. Denn das Zeug dazu hat sie: Mit der Kazan Arena eine super Location, die uneingeschränkte Unterstützung der großen Politik und ein ständiger siebenköpfiger Arbeitsstab, darunter drei hauptamtliche Führungskräfte. Und dazu jede Menge eingesetztes Herzblut bei den Organisatoren. Ich wünsche Vadim I und II mit allen Unterstützern gutes Gelingen und einen weiter kräftigen Anstieg der Teilnehmerzahlen.


Diesen Bericht gibt es wie (fast) immer mit vielen Fotos auf Marathon4you.de!

Streckenbeschreibung:
Schnelle, weitestgehend flache (88 Höhenmeter), zweimal zu durchlaufende 21,1 km-Runde. Zeitlimit: 6 Stunden.

Startgebühr:
Je nach Meldezeitpunkt 1.000 oder 1.300 Rubel (ca. 13,50 bzw. 17,50 €). Teilnehmer des „Großen Vaterländischen Krieges“ starten für umme – kein Witz. Die Guten wären heute mindestens 87 Jahre alt...

Zeitnahme:
In die Startnummer integrierter Chip.

Weitere Veranstaltungen:
Halbmarathon, 10 km, 3 km, Kinderläufe am Vortag.

Leistungen/Auszeichnung:
Pasta Party (nur für Marathoner), Kleiderbeutel, T-Shirt, Medaille, Urkunde.

Logistik:
Perfekt nahe beieinander, die gesamte Infrastruktur eines großen Stadions stehen zur Verfügung.

Verpflegung:
Mit Wasser, Iso, Bananen- und Orangenstücken sowie einmal österreichischer Brause völlig ausreichend. Einen Becher Cola hätte ich auf den letzten paar km trotzdem gerne gehabt.

Zuschauer:
Außer unmittelbar an Start und Ziel ausbaufähiges Interesse (höflich ausgedrückt). Im Klartext: gähnende Leere bis auf ein paar Fans der Mitläufer, diese haben die Lücke gut gefüllt.