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9. Röntgenlauf am 25.10.2009
 

Hart, lang und bergisch

Drei Halbe auf einen Streich rund um Remscheid

Es ist Sonntag, 8.30 Uhr, und ich stehe mit rund 3.000 Gleichgesinnten, die alle mehr oder weniger weit laufen wollen, am Start des Röntgenlaufs. Habe ich mich wirklich für den Ultra angemeldet? 63,3 km mit 850 Höhenmetern? Eine Streckenlänge, die ich noch nie gelaufen bin und die ich mir zurückzulegen eigentlich viel eher im Auto vorstellen kann?

Aber wie das so ist: Du schaust Dir mal – natürlich nur so, um Dich zu informieren, völlig ohne Hintergedanken und auch nicht im Ansatz mit der Absicht einer Teilnahme – mal die Internetseite an, riskierst einen oder auch zwei Blicke in die Ergebnislisten und stellst fest, daß der eine oder andere Bekannte  sich dieser Herausforderung bereits erfolgreich gestellt hat. Es arbeitet in Dir: Wahnsinnsunternehmen. Andererseits: Wenn die das geschafft haben? Es ist trotzdem sehr weit. Gut, Du hast mittlerweile jede Menge Erfahrung. Und wenn: In welcher Zeit? Quatsch, pures Überleben ist angesagt. Aber ganz hinten willst Du auch nicht stehen. Was müsste ich laufen, um einigermaßen in der Mitte  der Einlaufliste zu landen? Heiliger Vater! Andererseits wiederum...

Jetzt stehe ich hier mit einer Riesenportion Respekt meinem Vorhaben gegenüber. Eigentlich beste Voraussetzungen vernünftig zu bleiben. Anders als bei meinen letzten Läufen habe ich mich dieses mal ziemlich intensiv mit dem vor mir Liegenden auseinandergesetzt. Mir die Strecke und das Profil verinnerlicht. Start und Ziel im Remscheider Stadtteil Lennep, der Geburtsstadt von Wilhelm Conrad Röntgen, dem ersten Nobelpreisträger für Physik. Erstes Drittel tendenziell abwärts mit Ziel am Industriedenkmal Clemenshammer (Hammer = Schmiede), zweites Drittel tendenziell ausgeglichen mit Ziel Freibad Eschbachtal und für die ganz Harten, die bekanntlich als einzige in den Garten kommen, schließt sich der Kreis nach jeder Menge Höhenmeter wieder am Sportzentrum Hackenberg.

Roentgenlauf_vorher

Mit mir laufen wird Peter („Miatara“), der mich freundlicherweise in seinem Arbeitgeber-gesponserten Auto mitgenommen hat, für mich ein ungewohnter, gerne angenommener Luxus. Wir wollen mal sehen, wie weit wir uns auf ein gemeinsames Tempo einigen können. Das Geschehen vor dem Rennen spielt sich in der Sporthalle Hackenberg ab, kurze Wege zwischen Messe, Startnummernausgabe, Umkleiden, etc.

Besonders gespannt bin ich auf das Abschneiden meines Kollegen Matthias. Er hat bei einigen gemeinsamen Trainingsläufen und meinen Erzählungen vom Röntgenlauf Blut geleckt und sich zu seinem ersten Halbmarathon angemeldet. Vor einigen Tagen begann er dann durchzudrehen und war fortan nicht mehr von seiner Absicht abzubringen, gleich einen kompletten Marathon zu laufen. Nie zuvor war er mehr als 20 km am Stück gelaufen. Einen dringend angeratenen 30 km-Test hat er, leicht verletzt, überstanden. Trotzdem: Der Marathon muß es heute sein. Ich hoffe stark, ihn nicht überholen zu müssen.

Jeder stellt sich gem. seiner Einschätzung auf, Schilder mit geplanten Km-Zeiten dienen der Orientierung. Zwischen 6 und 7 min, das passt für heute. Es geht los, erst einmal in Richtung Lenneps mittelalterlicher Altstadt. Lennep hat 26.000 Einwohner und ist als ehemalige Kreisstadt heute nur noch Remscheider Stadtteil, wenn auch der zweitgrößte. Sehr schön anzusehen, wenn auch ungewohnt düster, sind die historischen Gebäude: Mit schwarzem Schiefer verkleidete Hauswände, weiße Fenster, grüne Läden. Auf z.T. grobem, durch den gestrigen Regen glitschigem Kopfsteinpflaster erleben wir Röntgens Geburtshaus, Röntgenmuseum, altes Rathaus und Marktplatz. Etliche Zuschauer des ehem. Mitglieds der Hanse (!) stehen an den Straßen und geizen nicht mit Beifall.

Auf den ersten 20 km ist jeder km einzeln ausgezeichnet, danach nur noch alle 5 km, was aber völlig ausreicht, denn was interessieren die Masse zumindest der Ultraläufer bei dieser Entfernung einzelne km in der Mitte des Rennens? Ich erlebe den wahrscheinlich langsamsten Start meiner „Karriere“, stolze 6:47 min (netto) benötige ich für den ersten km. Die ersten 5 km habe ich nach 31,5 min hinter mir und im Anschluß an die attraktive Runde durch die Stadt geht es wieder hinauf zum Sportzentrum Hackenberg. Von dort aus wechseln wir auf den Röntgenweg, den wir zu über 90% ablaufen werden.

Remscheid_Anfang

Auf dem Rückweg aus der Stadt kommt uns klappernd und schnatternd die Fraktion der Bestockten entgegen. Achim Achilles hätte sich mal wieder gefragt, warum eine Nation am Stock gehen muß... Sechs als Neger mit Baströckchen Verkleidete und Geschminkte machen jede Menge Spökes und sind ein beliebtes Fotomotiv. Bei Km 10 queren wir erstmals die Autobahn A1. Schnell wird ein Foto geknipst und der erste 10er ist nach 1:04 im Sack. 

Wir umlaufen Lüttringhausen, einen weiteren Stadtbezirk von Remscheid mit rund 17.00 Einwohnern, zwar leider nur, bekommen aber auch hier schon mit, was uns den ganzen Weg begleiten sollte: Die herzliche Anteilnahme der Bevölkerung, bei einem Landschaftslauf durchaus bemerkenswert. Immer wieder stehen kleinere und größere Zuschauergruppen und feuern uns mit netten Zurufen und Transparenten an. Ohrenkrebs bekomme ich allerdings von kleinen weißen Megaphonen, die nervtötend automatisch ständig „Olé, olé olé olé, we are the champions, we are the champions“ dudeln. OK, sie haben selbstverständlich recht, echte Helden sind wir tatsächlich, aber auf die Dauer... Ihr habt es natürlich gut gemeint und das wird anerkannt!

Remscheid_Mitte1

Das erste größere Waldstück wird kollektiv zum Pinkeln genutzt. Die Herren stehen einträchtig am Waldrand nebeneinander und die Mädels sprinten ins Gebüsch. Dem Herrn sei Dank für diesen wichtigen anatomischen Vorteil! Mittlerweile haben wir die ersten beiden Verpflegungsstellen passiert, die von Station zu Station reichhaltiger werden. Gut ist die deutliche Ausschilderung. Häufig gibt es auch warmen Tee, den ich sehr schätze. Kaltes und warmes Wasser, Tee, später Cola, Gatorade, Bananen und später noch Riegel, Kuchen und Frikadellen – klasse. Fast hätte ich das Kölsch vergessen, das uns Ultras am Ende aufgetischt wurde – herrlich!

Km 15 nehme ich nach 1:35 Std. Das sieht doch ganz gut aus hinsichtlich meiner Zielzeit. Zielzeit? Wollte der Herr nicht nur überleben? Ja, natürlich wollte er das, aber er wäre nicht er, wenn er nicht auch nach einer Zeit schielen würde. Eine Unterbietung von 7 Stunden, ohne mich zu sehr unter Druck zu setzen, das wär’s doch. Aufgrund des Profils habe ich mir für die drei Drittel 2:10, 2:20 und 2:30 als Marschroute gesetzt.  Die Ronsdorfer Straße wird bei km 15 überquert und weiter führt der Weg vorbei an kleinen Weilern wie Halbach, Grund oder Haussiepen, jeder nett anzuschauen und ein paar Leute stehen immer da. Saalbach wird bei km 19 passiert und einige schöne Seen erfreuen das Auge. 2:08 nach 20 km, nicht ganz im Zeitplan. Na ja, es ist ja noch weit. Hocherfreut nehme ich dann die Prosecco-Pause wahr, die nette Leute selbstlos im Wald anbieten.

Remscheid_Mitte2

Bei der Halbmarathonmarke (2:18) haben es dann die Halben geschafft. Links einordnen für den Zieleinlauf, rechts für Marathon und Ultra. „Und da ist mit der Startnummer 6444 Wolfgang Bernath aus Waldbreitbach. Er nimmt sich die Zeit, das Ziel zu fotografieren. Das wird er bestimmt auch noch beim Marathonziel tun.“ Genau. Deshalb mache ich mich auch schnell wieder vom Acker. Nach dem Clemenshammer, einem Wohnplatz mit rund 80 Einwohnern, an dem über mehrere Jahrhunderte Hämmer betrieben wurden, kommen weitere steinerne und hölzerne Zeitzeugen. Etliche dieser Schmieden sind in beklagenswertem Zustand, aber offensichtlich hat man die Zeichen der Zeit erkannt und versucht zu retten, was zu retten ist. 

Remscheid_Mitte_HM

Auf teilweise engen Wegen, an denen ein Überholen nicht möglich ist, geht es weiter, u.a. den Morsbach entlang. Manchmal muß ich schon über Zeitgenossen wundern. Da schiebt doch tatsächlich einer sein Fahrrad auf einer langen Serpentine mit vielen Treppen hoch und staut die zwar gehenden, aber im Zweifelsfall doch deutlich schnelleren Läufer!

Kurz vor Km 30 (3:17) kommen wir zum zweifellos architektonischen Höhepunkt der Strecke: Der Müngstener Brücke. Diese ist die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, eisern, 107 m hoch und mit 950.000 Nieten versehen. Jährlich am letzten Oktoberwochenende wird das Müngstener Brückenfest gefeiert, dann können Besucher in historischen Dampfzügen über die Brücke fahren. Davon merken wir aber nichts. In den letzten beiden Jahren, erzählt mir ein Mädel, sind just bei ihrem Unterqueren Dampfloks darüber gefahren. Super, an die halte mich! Klappt natürlich nicht. Wie filigran wirkt die Brücke aus der Ferne und wie mächtig sind die Pfeiler doch aus der Nähe!

Mittlerweile ist die Sonne durch die Wolken gebrochen und taucht den herbstlichen Wald in tolle Farben. Im Mix mit den immer wieder auftauchenden Gewässern ist das schon sehr schön anzusehen. Oberhalb der Wupper geht es weiter, die im bergischen Land entspringt und nach 116,5 km in den Rhein mündet – gut, daß wir heute nicht so weit zu laufen haben! Die Westhausener Straße wird bei Lehmkuhle überquert und der Name scheint Programm zu sein: Ein Waldweg ist neu planiert worden, der nasse, weiche Lehm saugt sich fast an den Schuhen fest. Gut, daß ich heute die Trail-Version anhabe.

KM 35 (3:49) führt an den Rand von Westhausen, parallel zur Hauptstraße und zum Eschbach vorbei am Kellers- und am Hüttenhammer. Km 40 erreiche ich nach 4:25 und realisiere, daß es mit den sieben Stunden wohl nichts werden wird. Ich muß mir ehrlicherweise eingestehen, daß ich die letzten zwei km zum Marathonziel (4:39) auch nicht schneller laufen würde, wenn ich „nur“ den Marathon liefe. Auch hier werde ich namentlich begrüßt, eine schöne Sache, fürs Foto gelobt und so fällt mir das Weiterlaufen nicht allzu schwer.

Remscheid_Mitte_M

Kurz dahinter folgt die Unterquerung der BAB 1 etwa auf Höhe der Raststätte Remscheid und dahinter schrauben wir uns die gefühlte siebenundzwanzigste Steigung hinauf. Längst nehme ich schon nicht mehr alle heftigeren Steigungen im Laufschritt. Weitere schöne Wege führen uns, entlang an malerischen Stauseen, über Bergisch Born und  Hückeswagen in Richtung Km 50 (5:35).

Ich bemerke an mir interessiert, wie sich die zunehmende Belastung auch mental bemerkbar macht. Ich reagiere mehr und mehr gereizt auf völlige Nebensächlichkeiten, die eigentlich nicht der Rede wert sind: Kinder, die uns im Vorbeigehen mit „Hopp, hopp, hopp“ zum schnelleren Laufen bewegen wollen und Spaziergänger, die uns nicht zur Kenntnis nehmen. Oder der Mitläufer, der alle halblang im Wald angerufen wird und ellenlange Telefonate führt. Wohin mag das wohl führen, wenn es mal wirklich ans Eingemachte geht?

An einer Stelle hat das THW eine kleine Behelfsbrücke gebaut, Respekt und Dank! Ebenso natürlich den vielen, vielen Helfern, die dafür Sorge tragen, daß es uns an nichts fehlt und wir nicht überfahren werden.

Bei km 55 habe ich mich wieder einigermaßen gefangen und die kleine Krise überwunden. Der fotografierte km-Stein markiert die Überschreitung meines bisherigen Laufrekords von 54 km beim Rheinsteig-Erlebnislauf. Es folgt bei km 57 die Wuppertalsperre, deren Errichtung sich über 27 Jahre hinzog. Auffallend ist der niedrige Wasserstand. Die Höhe des Absperrwerks beträgt 40 m, das max. Stauvolumen 25,9 Mio m³ Brauchwasser. Beim Knipsen bietet mir ein freundlicher Spaziergänger an, mich mit diesem Hintergrund abzulichten, aber ich will nur noch „nach Hause“, bedanke mich aber artig.

Es folgen noch die Überquerung der B 229, die letzte Verpflegungsstelle bei km 60 (6:46) und eine letzte, fiese Steigung auf km 62. Dann, endlich, höre ich „Es geht nur noch abwärts“ und ich freue mich, den Zielsprecher zu hören. Nach 7:08:10 Std. bin ich dann glücklich im Ziel, erhalte eine schöne, spezielle Ultramedaille und bin glücklich   in der Lage gewesen zu sein, 63,3 km mit vielen, vielen Höhenmeter zu laufen. Ich bin mächtig verdutzt, Peter frisch geduscht und gefönt im Ziel stehen zu sehen: Der war doch hinter mir gewesen?  Auch er hatte seine Krise und ist nach ca. 44 km umgedreht und durchs Marathonziel gelaufen. Matthias hat trotz Verletzung mit Anstand den Halbmarathon geschafft.

Roentgenlauf_Ziel
DSCN6175

Wenn ich mir überlege, wie körperlich beansprucht ich bin, frage ich mich ernsthaft, wie ich ggf. noch weitere Strecken schaffen soll. Aber ich habe ja gelernt, daß spätestens nach 40 km die Birne die Hauptarbeit übernimmt. Offensichtlich kommt es neben einem guten Trainingszustand aber ganz entscheidend auch auf die mentale Verfassung und natürlich eine gute Streckeneinteilung an.

Insoweit habe ich mir mal – natürlich nur so, um mich zu informieren, völlig ohne Hintergedanken und auch nicht im Ansatz mit der Absicht einer Teilnahme – mal die Internetseite von Biel angesehen, einen oder auch zwei Blicke in die Ergebnislisten riskiert und festgestellt, daß der eine oder andere Bekannte  sich dieser Herausforderung bereits erfolgreich gestellt hat. Es arbeitet in mir: Wahnsinnsunternehmen. Andererseits: Wenn die das geschafft haben? Es ist trotzdem sehr weit. Gut, Du hast mittlerweile jede Menge Erfahrung. Z. B. den Röntgenlauf gepackt. Und wenn: In welcher Zeit? Quatsch, pures Überleben ist angesagt. Aber ganz hinten willst Du auch nicht stehen. Was müsste ich laufen, um einigermaßen in der Mitte  der Einlaufliste zu landen? Heiliger Vater! Andererseits wiederum...

Streckenbeschreibung:
Halbmarathon (+265/-420 HM) und Marathon (+537/-649 HM) Punkt-zu-Punkt-Kurse,
Ultra-Marathon (63,3 km + 849/-862 HM) Rundkurs. Ständiger Wechsel von Auf und Ab auf unterschiedlichsten Wegen. Sehr abwechslungsreich, aber auch sehr anstrengend. 

Rahmenprogramm:
In der Sporthalle werden ab Samstag Nachmittag die Startunterlagen ausgegeben. Dort gibt’s auch eine Pastaparty, ein kleines Unterhaltungsprogramm und ein paar Verkaufsständen mit Sportartikeln (auch sonntags).

Weitere Veranstaltungen:
Halbmarathon, Marathon und Ultramarathon (63,3 km), Walking Marathon und Halbmarathon, 13 km. Verschiedene Cross- und Waldläufe. 

Auszeichnung:
Medaille für Marathon und Ultramarathon (eigene Heldenmedaille!), Urkunde ab 18.30 Uhr (!) aus dem Internet. Schönes Funktions-Shirt (im Preis enthalten). 

Logistik:
Startgelände ist das Sportzentrum Hackenberg. Dort großer Parkplatz, der allerdings schnell belegt ist. Es gibt außerhalb noch beschilderte Parkplätze mit Shuttle-Service. Halbmarathon- und Marathonläufer geben in der Sporthalle ihr Gepäck auf, das dann zum jeweiligen Ziel befördert wird.

Verpflegung:
alle 5 km Getränke (Wasser kalt/warm, Tee und Gatorade, später auch Cola und Kölsch), Bananen, Riegel, Kuchen und Frikadellen. 

Zuschauer:
Beim Start und in den Ortschaften herrscht gute Stimmung, auf den langen Passagen durch Wald und Wiesen ist es ruhig, auf der Marathon- und Ultra-Strecke oft auch sehr ruhig, aber nie langweilig. Gute Stimmung auch durch die sehr freundlichen Hilfskräfte an den Verpflegungsstellen und Straßenübergängen. 

Temperaturen:
Jahreszeitbedingt immer ein Vabanquespiel – alles war schon da. Diesmal hatten wir optimale Temperaturen und es war absolut trocken.

Dieser Bericht mit vielen Bildern auch auf marathon4you.de