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4. Wiedtal-Ultratrail in Waldbreitbach am 12.03.2016


Heimatkunde

Da joggt und läuft man jahraus, jahrein durch die Wälder des rheinischen Westerwalds rund um Waldbreitbach und weiß deren Qualität zu schätzen. Weiß auch, daß andere Läufer nicht mit ganz so viel Natur gesegnet sind und kennt eine ganze Reihe von Laufenthusiasten, die den Stadtläufen abgeschworen haben und sich nur noch in Feld und Flur bewegen. Die eigene Heimat genau diesen Laufkameraden zu zeigen war für meinen Freund Josef und mich vor drei Jahren der Anlaß, den Wiedtal-Ultratrail ins Leben zu rufen. Die Idee, möglichst viele, schöne Trailpassagen miteinander in Verbindung zu bringen und diese gemeinsam in einem Gruppenlauf bei geringstmöglichem organisatorischen Aufwand miteinander unter die Füße zu nehmen, war die Geburtsstunde des WUT. 65 km und 2.100 Höhenmeter, nie weiter als zehn km von Waldbreitbach, meinem Heimatdorf, entfernt, lautet also zum vierten Mal die Herausforderung.

Als ich um 7 Uhr zur Sporthalle komme, ist meine Verpflegungsmannschaft schon da. Josef, ehemaliger 2:30-Marathonläufer, sein Radkumpel Willi und Ultraläufer Jochen wissen, was das Läuferherz an einem kalten Morgen erfreut, und daher gibt es neben den Startunterlagen auch schon einen heißen Kaffee für alle. Meine Frau Elke ist mit unserem größeren Pkw ebenfalls dabei, unterstützt die Verpflegungsausgabe und bietet Fahrservice für ggf. ausscheidende Teilnehmer an. Service, dieses Wort wird bei uns großgeschrieben. Die Sparkasse Neuwied hat uns ihren Bus samt Anhänger zur Verfügung gestellt, daher kann jeder auch einen Rucksack mit den Dingen mitgeben, die er meint, unterwegs brauchen zu können. Gebrauchen können wir alle bei leichtem Frost auch die warmen Worte unseres (noch?) nicht laufenden Ortsbürgermeisters, Martin Lerbs, der uns trotz der samstäglich frühen Morgenstunde gut gelaunt auf die Reise schießt.
 

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Auf der nagelneuen Wiedbrücke überqueren wir erstmals die Namensgeberin unseres Laufs und biegen direkt, abweichend vom Verlauf der letzten Jahre, auf einen ersten, kurzen Trail ein, der uns auf Holzschnitzelboden über Serpentinen zum Hausener Franziskanerkloster bringt. Wir passieren eine rund 100 Jahre alte, der Mutter Gottes geweihte Felsengrotte, die vor wenigen Jahren in einer Gemeinschaftsaktion vor dem endgültigen Verfall gerettet worden war. Vorbei am Hausener Kloster, einer Gemeinschaft weltlicher Brüder, die sich seit Jahrhunderten v.a. um die Krankenpflege verdient machen, streben wir schon dem Malberg zu. Auf halber Höhe haben wir einen ersten schönen Blick auf Hausen/Wied und Glockscheid auf der gegenüberliegenden Wiedhöhe.

Erstmals in den Gehschritt verfallen, zeigt sich die heutige Art der Fortbewegung: Steigungen werden gegangen, im Flachen wird gejoggt, bergab gelaufen. So werden große Distanzen auch für Marathon- und Ultranovizen machbar, wir haben immer welche dabei. Der einstmals schöne, schmale Waldweg, dessen weichen Boden ich immer geschätzt habe, ist durch massive Holzabfuhr völlig zerstört, es hat sich aufgrund des wochenlangen Regens eine Seenlandschaft gebildet. Die Läufer verteilen sich im Wald, sie sehen aus, wie eine Hundertschaft Bereitschaftspolizisten in Bunt. Schwer sind die Wege und tief, das wird heute an sehr vielen Stellen sehr viel Kraft fordern. Der eine oder andere wird dem auch Tribut zu zollen haben, dazu später mehr.
 

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Aus dem Wald herausgekommen, befinden wir uns an der Skihütte Malberg, dem Ziel unseres Malberglaufs (Freitag, 5. August, 18:30 Uhr). Von hier aus genießen die ersten die traumhafte Aussicht ins Wiedtal; der See im ehemaligen Malbergkopf ist nicht minder attraktiv. Der viele Basalt, mit dem man über Jahrzehnte den Berg aushöhlte, bildet zu großen Teilen den Hindenburgdamm für die Eisenbahn zwischen Niebüll und Sylt. Ein netter Wurzelweg führt weiter auf drei km Waldautobahn, vorbei an der Kapelle Gebildseichhäuschen (deren Dachstuhl ist aus der Krone einer Eiche gebildet worden), der Turnerhütte Rheinbrohl und der Kaisereiche, die Ihro Gnaden Willi II hier eigenhändig gepflanzt haben soll, bergab ins Nonnenbachtal. Wieder ganz unten angekommen zeigt sich auch dem Letzten, daß der heutige Sinn des Bergablaufens nur der ist, anschließend sofort erneut die nächste Höhe zu erklimmen.

Es ist wirklich jede Menge Holz gemacht und die Wege entsprechend malträtiert worden. Ich bin froh, mit gestandenen Trailern beiderlei Geschlechts unterwegs zu sein, denen solche Untergründe keinerlei Kopfzerbrechen bereiten. Auf der Höhe folgt die nächste Geschichtsstunde an einer großen Wiesenfläche mitten im Wald. Nur noch der Gedenkstein an die Gefallenen der Weltkriege erinnert an den ehemaligen Rheinbrohler Ortsteil Rockenfeld, der hier bis in die sechziger Jahre stand und dann komplett geräumt wurde. Kaum noch jemand wohnte damals hier, fast alle Rockenfelder waren aus der Einöde weggezogen, manche machten ihr Glück, wie die Rockefellers in den USA. Die Frage nach der Herkunft dieses Namens hätte mir bei Günther Jauch 500.000 € eingebracht. Hätte, hätte, Fahrradkette, ich saß nicht auf dem Stuhl.
 

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Ein langer, langer Weg bringt uns, steil bergab, auf den km 14-16 wieder ins Wiedtal. Das Tempo bekommt mir heute gar nicht, die vordere Oberschenkelmuskulatur muß viel arbeiten, aber das zum großen Teil deutlich jüngere Gemüse um mich herum springt frohgemut umher, also lasse ich mich nicht lumpen und mache mit. Am Wanderparkplatz in Datzeroth angekommen, gibt es Grund zur Freude, denn unser Verpflegungsteam hat zum ersten Mal aufgetischt. Verschiedene warme Getränke und Snacks gilt es in zehn Minuten zu vertilgen, bevor der Sklaventreiber in mir mit Hilfe der Trillerpfeife zum Aufbruch drängt.

Über die steinerne Bogenbrücke führt die Strecke auf die gegenüberliegende Wiedhöhe. Für diese Brücke mußte der damalige Ortsbürgermeister sein Leben lassen im Versuch, die zurückweichende Wehrmacht von deren Zerstörung abzuhalten, er wurde standrechtlich erschossen. Auf halber Höhe haben wir einen schönen Blick auf Bürder (hier ist die Welt zu Ende, dafür liegt der Campingplatz total ruhig), und als wir dann über sehr schöne Trampelpfade ganz nach oben gekommen sind und ins Tal auf unsere (verlassene) ehemalige Verpflegungsstelle schauen, können wir uns kaum vorstellen, uns in so kurzer Zeit so weit davon entfernt zu haben. Viele nutzen die Gelegenheit und schießen jede Menge Fotos.
 

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Über eine große Wiese, wunderbar weich zu belaufen, erreichen wir den Niederbreitbacher Höhen-Ortsteil Wolfenacker und streben über Hegerhof in Richtung Kurtscheid. Ich bin erstaunt, in diesem Jahr eine recht homogene Truppe beisammen zu haben, von denen allerdings etliche richtig gute Trailer sind. Dadurch entfallen weitestgehend die sonst häufig benötigten kleinen Päuschen, um alle wieder aufschließen zu lassen. Schon an der ersten Verpflegung waren wir zehn Minuten eher als in den letzten Jahren gewesen. Kurz vor Kurtscheid biegen wir wieder talwärts ab. Nächstes Zwischenziel ist die Ruine der 1170 erbauten Neuerburg; vom Waldweg führt eine meiner Lieblingsstrecken, schmal, steinig und wurzelig zu ihr. Nicht jeder wird sie tatsächlich bemerkt haben, obwohl ich immer wieder auf sie hinweise. Sie hat dem Neuerburger Land im mittleren Wiedtal seinen Namen gegeben, ist in Teilen nach dem Verfall wiederhergestellt worden und in den Sommermonaten zumindest teilweise bewohnt.

Fast schon wieder ganz unten an der Wied durchqueren wir den Kelterhof. Drei Gebäude stehen einsam im Hang und erinnern an den Durst der Waldbreitbacher Franziskanerinnen, die in Glockscheid noch heute ihr Kloster haben. Also hat man an diesem Hang Reben angepflanzt, aber der Wein war wohl so sauer, daß die Weinwirtschaft bald wieder aufgegeben wurde, indes der Name ist geblieben. Ein schöner Wiesenweg führt ins Fockenbachtal, Schauplatz des Niederbreitbacher Volkslaufs. Wir passieren eine kleine Kapelle. Hier stand einst die Ölmühle, welche die Eltern der Margarethe Flesch betrieben. Margarethe war Gründerin und erste Generaloberin der Waldbreitbacher Franziskanerinnen, die über ihre selbstgewählte Aufgabe (vornehmlich) der Krankenpflege den größten privaten Krankenhausträger Deutschlands geschaffen haben. Über einen anspruchsvollen Trail erreichen wir eine den Fockenbach überspannende Holzbrücke und schrauben uns – richtig vermutet! – wieder in die Höhe.
 

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Am Ackerhof atmen wir Höhenluft und können in der Ferne Niederbreitbach mit seiner aus heutiger Sicht architektonisch furchtbaren Kirche aus den siebziger Jahren ausmachen. Am folgenden Aussichtspunkt liegen, wie auf einer Perlenschnur aufgereiht, Neuerburg, Kelterhof und Kurtenacker vor uns. Alle freuen sich schon auf die zweite Verpflegung, die wir auf dem Klosterparkplatz in Glockscheid erreichen. Meine Oberschenkel meckern zunehmend.

Linkerhand des nächsten Pfades, parallel zur Wied und oberhalb von Waldbreitbach   sehen wir unseren Start- und späteren Zielpunkt wieder. Im Geäst hängen noch lange Girlanden mit eingedrehten Glühbirnen. Hier ist, von der gegenüberliegenden Talseite sehr schön zu erkennen, der „Stern von Bethlehemg des Weihnachtsdorfes Waldbreitbach, immer vom 1. Advent bis zu Mariä Lichtmeß, zu bewundern. Zwei Monate lang, gerade in der dunkelsten Jahreszeit, können wir Lauftreffler im Dunklen ohne Stirnlampe (schwach) beleuchtete Wege laufen, ein perfekter Nebeneffekt. An den historischen, 800 Jahre alten Drei Weihern, streifen wir kurz mein Heimatdorf, durchqueren kurz ein Wohngebiet auf der nächsten Steigung und sind unmittelbar hinter einem Haus wieder zurück in der Wildnis. Von jetzt auf eben im Wald verschluckt, der Unterschied könnte nicht größer sein! Ich genieße diesen Weg, er gehört zu meinen absoluten Lieblingsstrecken und ein Blick in die Gesichter der Mitläufer spricht Bände: Wir sind uns in der Bewertung einig.
 

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Der Judenfriedhof, außerhalb des Dorfes gelegen, erinnert fatal an die sehr dunkle Zeit unserer jüngeren Geschichte. Auch wenn in den Endvierziger und Fünfziger Jahren ungern darüber gesprochen wurde, haben sich zumindest Teile der damaligen Bevölkerung nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Auch hier wurden aus Nachbarn rassistisch Verfolgte, die kleine Synagoge niedergebrannt und das jüdische Leben bis heute ausgelöscht. Glücklicherweise hat sich die Einstellung entscheidend geändert, eine Tafel erinnert an der alten Schmiede an das geschändete ehemalige Gotteshaus.

Nach Passieren einer weiteren Holzbrücke haben wir die Strecke erneut geändert. Aufgrund der Anlegung des sehr gut angenommenen Premium-Wanderwegs Wäller Tour Bärenkopp-Runde wurde ein uralter Wanderweg reaktiviert, der uns durch eine kleine, verwunschene Schlucht führt. Umgestürzte Bäume zwingen uns, die Köpfe einzuziehen, und wer nicht aufpaßt, holt sich im kleinen Bach nasse Füße. Für dieses schöne kleine Abenteuer müssen wir allerdings mit einem brutalen Aufstieg sofort büßen. Ganz schmal geht es hinauf zum weißen Kreuz am Bärenkopp, von wo man einen herrlichen Blick auf das Dorf hat und der für mich, wenn man so etwas benötigte, das Wahrzeichen unseres Ultratrails wäre.
 

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Nach der Durchquerung von Verscheid stürzen wir quasi abwärts ans Ende des Fockenbachtals, wo uns auf dem Grundstück der Fockenbachmühle viele Hunde und zwei ansehnliche Ziegenböcke (alle Viecher heute erfreulicherweise eingesperrt) mißtrauisch und mit viel Gebell begegnen. Die Köter, nicht die Böcke. Zum x-ten Mal hinauf, die Ortschaft Hollig streifend, erreichen wir schließlich in Nassen zum dritten Mal die Labestelle. Meine Quadricepse sind inzwischen völlig im Eimer, schon seit Stunden schmerzt jeder Schritt, besonders bergab. Ich versuche es mir nicht anmerken zu lassen, aber erfahrenen Ultraläufern kann man nichts vormachen. Blöderweise ist ausgerechnet in diesem Jahr mein Besenläufer, der für die beiden letzten Abschnitte genau hier einsteigen sollte, kurzfristig ausgefallen, und ich habe keinen Plan B. Ich beschließe, Pirmin, der bis jetzt jedes Mal dabei war und auch den GPS-Track mitführt, zu bitten, mich zu ersetzen. Noch während ich ihn suche, höre ich seine Stimme leise hinter mir: „Soll ich die Gruppe ins Ziel führen?” Ich höre mich nur noch erleichtert „Ja, bitte!”, sagen und bin nach knapp 41 km raus.

Daran habe ich gewaltig zu knabbern, aber ist die Sache es wert, sich kaputtzulaufen? Ich beschließe, mich nicht darüber zu ärgern, sondern zu freuen, daß es zwar keinen Plan B, aber eine Lösung gibt. Zudem übernimmt Reiner meine Kamera und hält auf ein paar Fotos das fest, was ich jetzt versäume: Die Durchquerung von Breitscheid, die Taufe der neuen Ultras (ich sehe nur strahlende Gesichter), der Boxenstop an der Nescher Mühle, der traumhafte Pfad in Richtung Weißenfelser Ley, die Besteigung des Vulkankegels Roßbacher Häubchen mit einzigartigem Rundumblick. Währenddessen, jetzt kann ich es ja sagen, verkrieche ich mich zuhause in der heißen Wanne und blase Trübsal, während Elke Kartoffeln für die Läufer kocht. Ehrensache, daß ich mich wieder aus dem Wasser schäle und sie zur vierten Verpflegungsstelle an der Arnsau begleite.
 

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Der brutalste km des ganzen Tages bildet den Anfang der finalen Etappe. Er bleibt mir heute erspart, allerdings führt das nicht zu erleichterten Gefühlen. So ein Mist aber auch! Die Truppe setzt ihren Weg, wieder ganz hoch oben, über Reifert fort. Pirmin findet sogar die Ortsumgehung, die Josef und ich im Vorfeld erkundet haben und die etwa zwei Asphaltkilometer durch Naturpfade ersetzt. Vom Wallbachtal geht es dann zum Schloß  Walburg, das bestens erhalten ist und mit großem finanziellen Aufwand restauriert privat bewohnt wird.

Währenddessen habe ich, wieder einigermaßen mit mir im Reinen, schon längst beschlossen, koste es was es wolle, auf den letzten Metern noch dabei zu sein. Elke fährt mich nach Over oberhalb (over, muhaha!) von Waldbreitbach, wo die Truppe allerdings noch nicht eingetroffen ist. So nehme ich den Pfad zum Schloß Walburg aus umgekehrter Richtung unter die Füße und laufe ihnen entgegen. Schön zu sehen, daß man sich freut, nochmal auf mich zu treffen. Die letzten vier km bleiben wir zusammen und meistern diese, vor allem bergab, über viele Serpentinen gemeinsam. Meine Quadricepse? Nun ja, mit ein wenig Chemie, was ich sonst nie mache, ist das zu ertragen und ein Weichei ist man ja schließlich auch nicht.
 

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An der neuen Wiedbrücke, wo alles seinen Anfang nahm, schließt sich der Kreis wieder und gemeinsam laufen wir ins Ziel zum Schulzentrum, wo unsere braven Verpfleger noch einmal alles aufgefahren haben, was wir an diesem Tag zu bieten hatten. Diesen schönen Tag beschließt ein gepflegtes vegan/vegetarisches/fleischhaltiges Salat- und Pastabuffet, das wir ab 19 Uhr im Hotel zur Post räubern. Eine „Siegerehrung” mit Glückwünschen, Ausgabe der verdienten T-Shirts und Urkunden darf natürlich auch nicht fehlen. Für selbstverständlich wird offenbar genommen, daß wir den WUT 2017 auch wieder anbieten, denn die ersten mündlich ausgesprochenen Anmeldungen durfte ich schon entgegennehmen. Also, Ihr Lieben, sehr gerne, und ich hoffe doch, dann persönlich einen besseren Tag zu erwischen.

Diesen Bericht gibt es mit sehr viel mehr Bildern auch auf trailrunning.de!